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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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du an deine Haut lässt, und sei dir sicher, dass du für immer damit leben kannst. Wie gesagt, heute hattest du einfach nur Glück. Und jetzt verschwinde, Kindchen, ich habe keine Zeit mehr, ich muss CD s kaufen gehen.
    Und sie lachte laut und heiser und vertiefte sich in eine Zeitschrift, die auf dem Tresen lag. Orla ging hinaus, ihreKopfhaut brannte. Sie zog sich die Kapuze über und ging durch die Dunkelheit nach Hause.
    Ich war mir nicht sicher, ob ich die Ratschläge dieser Tattoo-Künstlerin gutheißen sollte, zumal ihr offensichtlich klar gewesen sein musste, dass Orla noch minderjährig war, aber ich beschloss, meine bourgeoisen Bedenken erst einmal für mich zu behalten. Ohnehin musste ich zugeben, dass das, was sie Orla zum Schluss mit auf den Weg gegeben hatte, genau meinen bourgeoisen Werten entsprach. Nur hätte ich mich eben bourgeoiser ausgedrückt und damit alles verdorben.

9.
    Montag, 23. September
     
    »Leben Sie noch?«
    Das hat der Arzt immer gefragt, als er bei meinem gewesenen Mann die Hausbesuche machte.
    »Nein, Sie etwa?«, hat er jedes Mal geantwortet und gehustet.
    Ludwig war schon mein Gewesener, bevor er starb. Sogar schon, bevor Lutz verschwand.
    Danach haben wir eine Zeit lang gar nichts mehr miteinander zu tun gehabt. Manches Schwere ist so sperrig, dass man erst gar nicht versuchen sollte, es gemeinsam zu tragen. Als Ludwig unheilbar krank wurde, holte ich ihn zu mir und pflegte ihn zu Tode.
    Unheilbar, Unheil, der Reiher ist ein Todesbote. Doch die Tatsache, dass Vögel überhaupt etwas verkünden, bevor sie verschwinden, sehe ich als Beweis ihrer Güte.
    LEBEN SIE ?
    Stets das alte Lied. Auch ein Krebs-Kanon.
    EISNEBEL .
    Eisnebel habe ich unten am See nur ein einziges Mal erlebt. Es war sonnig und bitterkalt, der See noch offen. Das Wasser stieg als Dampf in die Luft und gefror sofort. Eisnebel macht ein feines Geräusch, ein kaum vernehmbares kristallines Klirren, es ist wunderschön. Junge Frauen, die sich unter dem klingenden Eisnebel im Kreise drehen, werden in Schwäne verwandelt.
    Wenn das Eis auf dem See dick und schwarz ist oder ganz glatt und grün, gehe ich und schaue nach den Fischen. Ich suche auf dem See die Fische, die beim Luftholen vom Eis eingeschlossen worden und mitten in ihrer Bewegung erstarrt sind. So wie bei diesem Spiel, das wir als Kinder gespielt haben und bei dem sich keiner mehr regen darf. Ich muss mir die Fische ansehen. Manchmal stundenlang. Bis es keinen Unterschied mehr gibt zwischen unterm Eis und überm Eis, bis das Leben unter der Eisdecke wahrhaftiger wird als das darüber. Die Grenze so dünn. Ein bisschen gefrorenes Wasser. Wenn es bricht, schwimmt der Fisch weiter, und ich gehe unter.
    Leben Sie?
    Sie leben, Ellen und Orla und Joachim, nur die Heidrun, nur die Heidrun nicht. Ich weiß nicht mehr, wann ich beschlossen habe, einen von ihnen mit in die Tiefe zu nehmen.

Wenn ich schlafe, träume ich von Grund.
    Sogar im Tiefschlaf können Träume auftauchen, das weiß man inzwischen, doch erinnern wir uns nur selten an sie. Sie sind wie die Wassernusspflanzen im alten Hafen, die sofort absterben, sobald sie von den Schwänen aus dem Wasser gerissen werden.
    Träume interessieren mich nicht. Ich freue mich, wenn meine Patienten Träume haben, Träumen ist gesund, aber ich langweile mich maßlos, wenn sie mir ihre Träume erzählen. Das sollen sich ihre Ehepartner anhören oder, besser noch, ihre Psychotherapeuten, die werden wenigstens dafür bezahlt. Ich sorge dafür, dass sie träumen, für die Inhalte bin ich nicht zuständig. Regelrecht zuwider ist mir, wenn mir Menschen ihre Träume erzählen, die nicht einmal meine Patienten sind, natürlich mit Ausnahme meines Kindes, aber das ist etwas anderes, ich habe mich schließlich sogar für seine vollen Windeln begeistert. Wenn es so ist, dass jeder Schlafende eine eigene Welt für sich hat, heißt das aber nicht unbedingt, dass ich auf diese Welten besonders neugierig bin. Einzig für ihn selbst sind die Erlebnisse von dort mit wundersamer Bedeutung aufgeladen. Für alle anderen hingegen sind sie von bedrückender Ödnis.
    Wenn der Wasserpegel im Hochsommer fiel, tauchten die unteren Ränder des Ufers aus dem alten Hafen, und was außerhalb des Wassers nicht leben konnte, faulte in der Hitze vor sich hin. Früher streiften Andreas und ich am Wassersaum entlang und versuchten, irgendetwas zu finden, egal was. Es gab Plastikmüll, glitschige Äste und Flussmuscheln. Wir bückten uns nach

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