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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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Man musste möglichst weit nach vorne wegspringen, weil man sonst auf dem Ponton zerschmettert wäre. Wir haben uns nachts im Kieswerk getroffen und uns von den riesigen Sandbergen aus in den See geworfen. Innerhalb eines Sommers haben wir fast einen ganzen Sandberg platt gemacht. Das Kieswerk ist nicht mehr in Betrieb. Wahrscheinlich wird es demnächst ganz abgebaut, und die Berge werden tatsächlich abgetragen. Dann bekomme ich vielleicht endlich meine Adidas-Turnschuhe wieder, die ich seit zwanzig Jahren vermisse. Der Schwimmbagger steht schon eine Weile nicht mehr im Wasser. Ich bin froh, dass meine Tochter da nicht mehr herunterspringen kann.
    – Eine behütete Kindheit auf dem Lande, voll der unschuldigen Spiele und des nicht enden wollenden Herumtollens und Frohlockens.
    – Ja, das ist wahr. Von den Maisfeldern, die wir abgefackelt haben, erzähle ich dir ein andermal.
    – Vielleicht besser. War Andreas da auch mit?
    – Ja, natürlich.
    – Natürlich.
    Als wir auf ein dichter bewaldetes Wegstück kamen, wurde es gleich kühl, im Schatten der Bäume hielt sich schon der Herbst bereit, saugte die Wärme aus der Luft und sammelte Kraft. Der See roch anders als der Fluss, nach nassem Staub. Die Steine am Rhein trugen mehr Algen, vielleicht roch der Fluss deshalb modriger. Wenn wir nach dem Baden wieder trocken waren, roch auch unsere Haut nach dem See, und es fühlte sich an, als hätten sich winzige Staubpartikel in die Poren, in die Rillen der Fingerkuppen und um jedes noch so feine, durchsichtige Härchen des Körpers gelegt. Das Wasser hier war trüb und hatte unterschiedliche Farben. An diesem Ende, wo das Schilf wuchs und das Vereinsgelände der Stehsegler lag, war es dunkelgrünbraun, froschfarben, und von unten herauf wuchsen braune, ein wenig schleimige Pflanzen, weiche Gewächse, die nie die Wasseroberfläche durchbrachen.
    Wir fuhren weiter, vorbei an den Anglerstegen, die aus dem Unterholz in den See hineinragten. An einer Lichtung hielten wir an. Von hier aus konnte ich Benno am besten zeigen, dass der See eigentlich aus zwei Hälften bestand. Dazwischen lag das Kieswerk. Viel war nicht mehr davon übrig, nur noch die Sandberge. Bis vor ein paar Jahren hattees dort große Waschtürme, Förderbänder, Schwimmbagger und Schlammrohre gegeben. Ich brauchte nur hinüberzuschauen, und schon hatte ich das Geräusch der klackernden Kiesel im Ohr, die durch die Röhren, Siebe und Waschanlagen kollerten. Ich konnte das Rauschen des Wassers hören, das aus einer auftauchenden Baggerschaufel zurück in den See strömte. Wurde die Schaufel über einem Lastwagen ausgekippt, stürzten Millionen von Steinen brüllend in die eisernen Behälter.
    Jetzt war es ganz still hier unten, und ein heller Strand erstreckte sich neben den Sandbergen. Das Wasser war hellgrün, fast türkis. Dort lagerten an den Wochenenden die Badegäste, jene bedauernswerten Menschen aus Pforzheim und Umgebung, die offenbar keine eigenen Seen hatten und deshalb mit Grill und aufblasbaren Delfinen bei uns einfielen.
    Wir stiegen wieder auf die Räder und fuhren weiter um die andere Hälfte des länglichen Baggersees. Das Wasser wurde dunkel. Dort, wo wir als Kinder im Sand gespielt und gebadet hatten, wo wir uns Sonnenbrände holten, um »danach braun« zu werden, wo wir aus dem grauen Schlamm selbstvergessen und stundenlang Tröpfle-Burgen bauten, war jetzt alles zugewachsen.
    Heidrun ging oft mit mir schwimmen, sie nahm auch manchmal Andreas mit oder Nachbarskinder. Sie hätte gern mehr Kinder gehabt, doch »es kamen keine mehr«. Heidrun und die anderen Mütter zogen sich in riesigen Frotteeumhängen um. Am Hals wurde »der Schlauch« mit einer dicken Kordel zugezogen, und so duckten und wanden sich unsere Mütter darin wie in einem seltsamen Tanz. Sie stießen mit ihren Ellbogen und Hintern in dem Sack herum, sodass er sich in alle Richtungen ausbeulte. Ihre Gesichter nahmen dabei einen nach innen gekehrten Ausdruck an. Bisweilen tauchte eine der Mütter ganz in ihren dunklen Schlauch, kam kurze Zeit später wieder empor, erhitzt und keuchend, wahrscheinlich hatte sie aus Versehen etwas falsch herum angezogen oder konnte ein anderes Teil nicht finden. Nach wenigen Minuten des Knuffens und Schlängelns streiften sich die Mütter den schweren Frotteesack über den Kopf und standen entweder im Bikini oder in ihren Kleidern auf der Badematte, je nachdem, ob sie kamen oder gingen.
    Unser Schlauch war von einem fürstlichen Korallenrot mit

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