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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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Witterung aufzunehmen, bis meine Nase scharf aus meinem Gesicht sprang. Ich bin jedem Hinweis nachgegangen, bis meine Beine ganz knochig waren. Wo einst mein Mund war, ist jetzt ein Riss.
    Mein ganzer Körper besteht aus Sehnen.
     
    Warum verlange ich nach all diesen Jahren plötzlich Rache? Nemesis ist auch ein Kind der schwarzgesichtigen Nacht, von der wir singen. Nicht nur der schwere Schlaf und sein Bruder Tod. Die Rache ist die Schwester des Schlafs, sagt Ellen. Und die Missgunst. Ich missgönne ihr das Kind. Orla, sie ist so nah. Immer steht sie neben mir. Ich schaue sie nicht an, aber sie riecht gut, so zuversichtlich. Süßer Schlaf.
    Ich nehme Rache für mein Kind. In der Nacht sind alle Reiher grau. Über Tag auch. Komm Schatten meines Endes, Umriss meiner Ruhe, »shape of rest« singen wir in der ersten Zeile der zweiten Strophe. Das ist zum einen die Ruhe, die Grabesruhe, sagt Joachim, aber auch die Gestalt des Restes, der noch von einem übrig geblieben ist. Und es ist eine Rast, vielleicht die Pause in einem Lied. Ein Atemholen, das gerade in diesem Liedvers besonders schwierig ist. Von Komplizenschaft mit dem Tod singen wir, von aufrührerischen Stimmen in meiner Brust, vor denen ich mich selbst fürchte. Komm. Komm. Komm.
    Das Lied handelt von einem, der nicht kommt.
    Ich beschwöre ihn, er möge kommen, doch es ist sinnlos. Das Lied bricht aus einem hoffnungsvollen G-Dur-Akkord aus und wechselt abrupt in der vierten Zeile nach H-Dur, gedämpft, entmutigt. Es endet zwar wieder mit fast den gleichen Tönen, mit denen es beginnt, aber nur fast. Ich bin nicht mehr dieselbe wie am Anfang des Liedes, ich sehe nur so aus. »Dur« bedeutet hart.
    Das Lied schließt mit einem Ultimatum: Komm, ehe mein letzter Schlaf kommt, oder komm niemals mehr. Anfangs habe ich nicht gesehen, dass es in diesem Lied um mich geht.
    Oder komm niemals mehr.
    Er wird nicht kommen, also werde ich gehen.
    Aber ich gehe nicht allein.
     
    Ich höre Joachim genau zu, ich beobachte die Menschen in seinem Chor, wie ich die Vögel im Tiefgestade, am See und in den Rheinauen betrachte. Ich wollte bei ihnen sein, bei Ellen und Andreas, weil sie vielleicht die Letzten waren, die Lutz gesehen haben. Sie wissen nicht, wer ich bin. Jedenfalls glaube ich das. Bei Andreas kann man sich nicht sicher sein, aber er würde es sowieso keinem sagen.
    Und nun sehe ich Ellen mit ihrem Heldentenor, mit ihrer neuen Liebe. Sie hat Lutz vergessen. Vor meinen Augen, unter meiner Nase. Sie haben Blätter und Baumrinde in den Haaren und Kleidern, ihre Lippen sind wund und weich geküsst, und wenn sie an mir vorbeigehen, lächelnd, grüßend, riecht es nach feuchter Erde.
    Ich sehe Ellen mit ihrer irischen Tochter, die so singt, dass die Steine weinen. Ich sehe sie mit Joachim, der seine Frau aus der Unterwelt zurückholen möchte. Ich sehe all das, und plötzlich entweicht mir die ganze Luft zum Atmen, H-Dur, Hhhhh, ich kann hören, wie die Luft aus meinen Lungen strömt, wie ich mich aushauche, ich höre, ich höre auf.
    Es ist das grüne Buch, es ist das Singen, es bricht mich auf, bricht mich. Was innen ist, drängt heraus.
    Ich breche auf.
    Doch zugleich bleibe ich hart. Das geht.

Heidrun starb nicht an der Krankheit, an der sie so lange gelitten hatte, nicht einmal an der subarachnoidalen Blutung in ihrem Kopf. Sie starb, weil wir ihr nichts mehr zu essen gaben, während sie im Koma lag, in das sie fiel, als ein Aneurysma in ihrem Hirn platzte, das dort gewachsen war, vielleicht infolge einer Borrelliose, an der sie erkrankte, nachdem sie vor ein paar Jahren von einer Zecke, die wir damals sehr spät entdeckten und entfernten, in den Nacken gebissen worden war. Eine Blase wuchs in ihrem Kopf, ein spindelförmiger Kokon, der aufbrach. Und unter Heidruns Spinnwebhaut begann es zu bluten.
    Da war sie wieder, die Kopfspinne. Sie wohnte unter den Göttern im Louvre und webte Hirngespinste aus staubiger Seide, ich kannte sie schon. Vielleicht hatte Heidrun nicht aufgepasst, als sie mir die Spinnweben aus der Nase zog? Meine Dura Mater.
    Die Ärzte hatten gesagt, ihr Gehirn sei schon vor dem Spindelstich ganz zerstört gewesen. Es gebe keinen Raum mehr in ihrem Kopf, in dem sie aufwachen und wieder zu Bewusstsein kommen könne. Deswegen wurde sie auch nicht künstlich ernährt. Alle Räume waren vollgestopft mit Plaque und Knäueln aus Neurofibrillen und Eiweißresten – Absonderungen, die denen der Brückenspinne auf den Gebäuden der Hafencity nicht

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