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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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unähnlich waren. Nach zehn Jahren Alzheimer war ein Koma fast ein Glück.
    Sie wurde nicht operiert. Es gab ja nichts zu retten. Nichts tat weh. Vom Krankenhaus kam sie zurück in das Pflegeheim, in dem sie die letzten anderthalb Jahre gelebt hatte.
    Joachim hätte sie damals nicht freiwillig in ein Heim gegeben, aber sie brach sich das Bein, vielleicht ihm zuliebe, denn wäre es die Hand gewesen, hätte er sie zu Hause behalten. Danach vergaß sie, wie man geht, und schließlich gab Joachim auf. Ein Arzt sagte, Joachim habe alles getan, was erhätte tun können, und noch mehr, aber jetzt sei es Zeit, die Verantwortung abzugeben.
    Verantwortung war ein anderes Wort für Heidrun.
    Schließlich war Joachim so weit. Heidrun war es längst. Sie war schon so weit weg, dass es keinen Unterschied mehr für sie machte, ob sie im Heim oder zu Hause untergebracht war, und das war eine Erleichterung für Joachim. Und seine Erleichterung war eine Erleichterung für mich, denn ich wohnte in Irland, auch weit weg.
    Als Heidrun aus dem Haus war, konnte Joachim nachts wieder durchschlafen. Das Haus selbst war im Laufe ihrer Krankheit eine Festung geworden, ein Hochsicherheitstrakt mit abschließbarem Metallzaun und verschiedenfarbigen Türgriff-Markierungen, damit man wusste, welcher Schlüssel in welches Schloss passte. Jedes Zimmer musste zu jeder Zeit abgeschlossen werden. Wollte man eines betreten, so nahm man das große Schlüsselbund, suchte den Schlüssel mit der richtige Farbe und schloss auf. Verließ man das Zimmer, schloss man sofort hinter sich ab. Heidrun hätte Herdplatten anstellen und das Haus abfackeln können, sich an Messern und Scheren schneiden, wichtige Dokumente zerreißen, Schmuck und Geld vergraben, Wasserhähne anstellen, sich einen Stromschlag holen, auf etwas klettern und hinunterfallen, weglaufen und unters Auto kommen können. Joachim bestand darauf, dass man das Schlüsselbund an einer Kette am Hosenbund trug. Er fand das praktisch. Also rasselten er und ich wie Schlossgeister durch das Haus, welches jedoch eigentlich von Heidrun heimgesucht wurde. Aber ein Geist war sie nicht, gerade von einem Geist war nichts mehr in ihr zu spüren, und auch ein Gespenst war sie nicht, eher noch etwas Abspenstiges. Ich war mir bald nicht mehr sicher, wer in diesem Haus nun wirklich herumspukte, wir oder sie? Nichts war sicher. Hatten Alzheimer-Patienten im letzten Stadium der Krankheit noch eine unsterbliche Seele, etwas, das blieb, wenn der Körper verschwand? Gehörte das Gehirn zum Körper oder zum Geist? Mit dem klappernden Schlüsselbund versuchte ich, meine eigenen Dämonen zu verjagen, doch schien ich sie damit erst recht herbeizulocken. Immer erst, wenn ich wieder zu Hause in Dublin war, nahmen sie für kurze Zeit Reißaus.
    Im Heim riss Heidrun noch eine Weile lang Zeitschriften kaputt. Ich glaube, das Geräusch gefiel ihr, vielleicht war es auch das Gefühl des Reißens, das ihren Händen eine gewisse Befriedigung verschaffte. Es war lustvoll zu spüren, wie etwas nach dem ersten Ruck unter dem Druck der Hände nachgab. Papier stieß beim Reißen eine Art Fauchen aus, es sei denn, es war perforiert, dann knatterte es entgegenkommend. Gewebte Stoffe schrien, und je schneller man riss, desto schriller der Schrei. Pflanzen, die man mitsamt der Wurzel ausriss, stöhnten kurz und dumpf auf, bevor sie von der Erde abließen. Als Kinder befragten wir das Baum-Orakel, indem wir die gefiederten Blätter der Robinie einzeln abknipsten. Unter verheißungsvollen Rupfgeräuschen erfuhren wir, ob wer auch immer uns nun liebte oder nicht, liebt mich, liebt mich nicht, liebt mich, liebt mich nicht. Gesplisste Haarspitzen knackten leise, wenn ich sie mir abzupfte und zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herrollte, weil mir das Gefühl in den Rillen meiner Fingerkuppen angenehm war.
    Heidrun hielt die Papierschnipsel fest umklammert. Es war schwierig, ihr Sachen wegzunehmen, die sie einmal zu fassen gekriegt hatte. Je mehr ihr entfiel, desto stärker hielt sie fest. Mit eisernem Griff umklammerte sie alles, was sich ihr bot, Papier, eine Hand, eine Türklinke, einen gespitzten Bleistift, eine Blume, eine Nagelschere, einen Nagel, ja selbst das Feuer im Herd.

    Einmal packte sie den dicken, dornigen Zweig einer Brombeerpflanze im Garten. Tief bohrten sich die großen, spitzen Dornen in ihre Finger, bis diese bluteten. Doch ihr Kopf konnte keinen Zusammenhang herstellen zwischen dem Schmerz in der Hand und den

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