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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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hineingepressten Dornen. Also lockerte sie ihren Griff nicht, und wir mussten ihr die Hand mit Gewalt aufbiegen.
    Selbst als sie schon im Koma lag und ich ihre Hand nahm, drückte sie meine Hand und hielt sie fest. Ein Reflex, sagten die Kollegen.
    Ich sitze noch immer auf Orlas Bettkante, mir ist kalt in meinem Nachthemd. Es hat kurze Ärmel, schließlich haben wir Mai, aber das ist nur die Bezeichnung für einen Monat. In dieser Stadt sagen solche Namen nur wenig über die Jahreszeit aus. Ich küsse Orla auf die Wange, sie liegt auf dem Rücken und atmet weiter, lautlos, ich sehe nur das gleichmäßige Heben und Senken der Decke über ihrer Brust, also gehe ich den langen Flur hinunter zurück in mein Zimmer. Die breiten Holzdielen unter meinen Füßen sind warm und quietschen an der einen Stelle vor meiner Schlafzimmertür. Wenn Orla spätnachts nach Hause kommt, höre ich, wie sie auf dem Weg in ihr Zimmer die quietschende Stelle überspringt. Spätestens von dem dumpfen Laut, den sie bei der Landung verursacht, wache ich auf. Ich habe es nicht gern, wenn sie nachts loszieht, um aus öffentlichem Eigentum mithilfe von Wäscheleinen, Schnüren und Fäden Saiteninstrumente zu bauen. Würde sie stattdessen Joints bauen oder saufen, hätte ich noch mehr Angst. Der Trick ist, sich die Tatsache, dass alles noch schlimmer sein oder werden könnte, zunutze zu machen und nicht etwa gegen sich zu wenden. Es gelingt mir nicht immer. »Harfenstadt Hamburg« nennt sie ihr Projekt. Windharfen hat sie schon als Kind mit Declan gebaut.

    Orla ist eher verschwiegen in persönlichen Dingen, aber sie hat die Erfahrung gemacht, dass es ihr Leben vereinfacht, wenn sie mich über das Wichtige ab und zu grob unterrichtet. Unwichtiges, das sie in aller Einzelheit beschreibt, wirft sie mir öfters hin wie einen Knochen, an dem ich nagen kann, um sie dafür in Ruhe zu lassen. So behält sie die Kontrolle über den Informationsfluss, kann seinen Verlauf regulieren und Stauungen oder größere Einbrüche in Form von Kreuzverhören, Erkundigungen über Dritte oder plumpe Spionage meinerseits verhindern. Selten quillt ihr einmal das Herz über, aber anders als Heidrun, die mir unter Auferbieten all ihrer Kraft und Liebe ein paar Sandsäcke vor die Bruchstellen gestemmt hätte, versuche ich alles aufzufangen, was ich fassen kann.
    Als wir in Grund wohnten, verliebte sich Orla, und sie erzählte mir davon. Wahrscheinlich tat sie es, damit es dadurch wirklicher würde. Mir war es egal. Ich kann es mir nicht leisten, ihre Beweggründe zu hinterfragen. Wenn sie mir tatsächlich einmal etwas Wichtiges mitteilen möchte, halte ich still und höre zu.
    Adrian Roth arbeitete auf Brücken, Überführungen, Bahnübergängen. Er war ein Sprayer. Auf dem Betonweg bei der Straßenbahn stand in fetten lila, grünen und gelben Buchstaben das Wort SCHRECKENSSCHWELLE und sah aus, als wäre es aus prallen Luftballonwürsten geformt. Es hatte Glanzpunkte, die weiß blitzten wie Gebiss-Sternchen in der Zahnpastareklame. In der alten Unterführung zum Einkaufszentrum stand WAS GELIEBT WERDEN KANN AM MENSCHEN IST DASS ER EIN ÜBERGANG UND EIN UNTERGANG IST . Die Buchstaben waren blau und unverziert, aber sorgfältig mit Schablonen aufgetragen. Auf einer der Brücken über den Kanal, der quer durch Grund in den Rhein führte, stand: TAND TAND IST DAS GE BILDE VON MENSCHENHAND . Auf einer anderen, der metallenen Hängebrücke im Wald, hatte Adrian mit kleinen blauen Lettern den ganzen linken Handlauf besprüht. Dort hieß es:
    ich habe den fluss nun überquert ich bin nun über die brücke ich bin am anderen ufer ich habe die andere seite erreicht und das ist alles was ich heute noch weiß sie hat seile und es tut gut sie jeden tag zu überqueren ich habe den fluss nun überquert ich bin nun über die brücke ich bin am anderen ufer ich habe die andere seite erreicht und das ist alles was ich heute noch weiß sie hat seile und es tut gut sie jeden tag zu überqueren ich habe den fluss nun überquert ich bin nun über die brücke ich bin am anderen ufer ich habe die andere seite erreicht und das ist alles was ich heute noch weiß sie hat seile und es tut gut sie jeden tag zu überqueren
    Orla fand diese Graffiti eher spießig.
    – Stell dir vor, sogar Opa findet all diese Sprüche »gelungen«, sagte sie angewidert.
    Sie war damals schon in der »Dead Alice«-Phase, sprühte Labyrinthe auf runde Gullideckel und versetzte Steine, Gartenzwerge und Blumentöpfe zu

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