Vom Schlafen und Verschwinden
angemessene Seinszustand? Das, was einer Erlösung am nächsten kommt. Und ich verschwende mein halbes Leben darauf, die Menschen daran zu hindern, in der Erschöpfung endlich zu sich zu kommen. Denn die schwarzgesichtige Nacht ist schließlich nicht nur die Unterbrechung zwischen zwei Tagen, und träumen kann ich auch in der Erschöpfung. Womöglich ist der Traum ja der Hüter der Schlaflosigkeit. Ihr verdanke ich meine nächtliche Luzidität, verschlafen bin ich nur am helllichten Tag. Verschlafen und erschöpft.
Heidruns Schlaf war zunächst ein kraftvoller. Ihre starken Bauchmuskeln arbeiteten, ihre Lider zuckten, sie wirkte wacher als im Dämmerzustand jahrelanger Demenz. Ihr Atem ging schwer und heftig, als ärgerte sie sich über etwas oder verlöre gleich die Geduld. Sie hielt meine Hand fest und schnaubte, hustete, gähnte laut und stöhnte, aber nur anfangs. Später wurde sie stiller.
Nie bewegte sie den Kopf. Sie wurde von links nach rechts gebettet, damit sie sich nicht wund lag, und ich musste meinen Kopf auf ihr Kissen legen, damit sie mir in die Augen sehen konnte, und selbst dann schaute sie mit nebelgrauen Augen durch mich hindurch. Wenn ich ihren Namen sagte,Heidrun, Heidrun, sieh mich an, konnte ich sehen, wie sie wie von ganz weit her meinen Ruf vernahm, aber eigentlich war sie schon außer Hörweite. Sie hob die Augenbrauen und verzog den Mund, aber sie schaffte es nicht, zu erwachen, nicht, mich anzusehen. Vielleicht war es die Kombination aus meiner Stimme und ihrem Namen, die etwas in ihrem Körper zum Schwingen brachte, aber eigentlich war sie jenseits der Wahrnehmung und ihr Koma zu tief. Komm jetzt, oder komm nie mehr. Also nie mehr. Die Schlafeffizienz ermisst sich aus der Schlafdauer multipliziert mit hundert, geteilt durch die Zeit, die man im Bett liegt. Der so ermittelte Schlafquotient muss möglichst größer sein als 85. Das ist bei mir nicht der Fall. Also besser nicht unnötig lange hier herumliegen.
Ich stehe auf, die silbernen Punkte vor meinen Augen haben sich herabgesenkt wie die weißen Flocken in einer Schneekugel. Ich gehe noch einmal in die Küche, dieses Mal aber auf Socken. Heiße Milch mit Honig, regressive Trostnahrung für mutterlose Halbwaisen, das brauche ich jetzt. Ich mache immer noch kein Licht, der Himmel hat schon etwas Farbe, und die Straßenlaternen und Häuserlampen scheinen durch die Jalousien. Jalousien heißen so, weil die Dame des Hauses zwar hinaus, aber fremde Herren nicht hineinsehen können, eine Art zivilisierter Gitterstäbe. Jalousie, das Wort klingt nach Verführung, wie ein Frauenname, ja, Louise, komm, er wird es nicht sehen. Das deutsche Wort Eifersucht klingt nicht mehr nach Verführung, sondern nach Impulskontrollstörung: Er sucht, sie sucht, Esssucht.
Orla fand sich fett. Sie war nie zart gewesen, aber nach der Sache mit Patrick fing sie an, sich vollzustopfen, sie nahm zu. Als wir schließlich nach Grund zogen, fuhr sie überallmit dem Fahrrad hin, schwamm oder ruderte im See und rannte am Fluss entlang. Sie wurde muskulös und wuchs weiter, und alles an ihr verteilte sich langsam und schön auf ihre gesamte Größe. Orla hat einen beunruhigenden Körper, üppig und kurvig und weich und lebendig und unübersehbar. Wie alt muss eine Frau werden, bis sie mit ihrem Körper Frieden geschlossen hat? Ich bin jetzt siebenunddreißig. Früher fühlte ich mich immer fetter, als ich war, heute bin ich wahrscheinlich fetter, als ich mich fühle. Das kann man getrost Frieden nennen.
Ich hole einen Topf und fettarme Milch. Fettarm ist ein widerliches Wort, sofort sehe ich schlaffe Specktaschen, die unterm Bizeps schlackern, so viel zum Frieden.
Das Glas mit dem Rapshonig steht im Schrank. Ich schalte den Herd an. Raps heißt auf Englisch rape, vergewaltigen. Schon lange kann ich nicht mehr an Rapsfeldern vorbeifahren, ohne daran zu denken. Ich rühre den Honig in die Milch und sehe die rot glühenden Ringe unter der dunklen Ceranplatte aufleuchten. Wie eines von Orlas Labyrinthen. Das Maislabyrinth haben sie nie ganz fertig bekommen.
Als wir wieder in Grund wohnten, war es manchmal seltsam, wenn ich sah, wie meine Tochter am gleichen Ort jung war wie ich. Andreas und ich hatten oft am Baggersee gespielt, auf den Sandbergen, am vorderen Teil im Schilf und auf den Anglerstegen. Wir waren auch viel in den Wäldern gewesen und auf dem Feld. Hinter dem Haus meiner Eltern begann der Acker, eine alte Bahnschiene lag dazwischen. Zweimal am Tag rumpelte
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