Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
Vom Netzwerk:
ein kleiner Güterzug dort vorbei, morgens und nachmittags, aber ich hörte ihn meistens nur einmal am Tag, es sei denn, ich hatte erst zur zweiten Stunde Schule. Eine lange Zeit hatten die rostigen Schwellen zwischen den dunklen Schienen einen so großen Abstand, dasswir kaum darauf laufen konnten. Wir mussten unsere Beine weit strecken und fast springen, um von einer Schwelle zur nächsten zu gelangen. Und wenige Jahre später schon lagen sie zu dicht beieinander und wir waren gezwungen, in einen trippelnden Galopp auszubrechen, wenn wir eine längere Strecke darauf zurücklegen wollten.
    Es muss in jener kurzen Zeit gewesen sein, als die Schwellen genau in unsere Schrittlänge passten, dass Andreas und ich uns immer nachmittags bei den Bahnschienen trafen.
    Kurz bevor der Zug vorbeikam, legten wir Ein-Pfennig-Münzen auf die Schienen und ließen ihn darüberrasen: Lok, Waggon, Waggon und Stille. Wir lagen im Ginster gleich neben den Schienen. Es pikste, Käfer kletterten auf uns herum, Ameisen krochen in unsere T-Shirts und bissen uns in die Bäuche, und kurz bevor der Zug kam, musste ich immer ganz nötig, ging aber nie. Aus dieser Nähe war der Zug schon so laut, dass es uns in den Ohren schmerzte. Unsere inneren Organe vibrierten, und ich stellte mir vor, dass mein Blutkreislauf durch das Gerüttel aus Versehen die Richtung wechseln könnte, so wie die Strudel über dem Abfluss in der Badewanne die Richtung änderten, wenn man sie mit dem Zeigefinger gegen die Laufrichtung umrührte.
    Andreas sagte, die Badewannenstrudel würden durch die Corioliskraft verursacht, und in Feuerland liefen die Wannen andersherum ab. Und wenn alle Menschen auf der Erde gleichzeitig ihre Badewannenstrudel gegen die Laufrichtung rührten, könnten sie es schaffen, die Corioliskraft dahingehend zu beeinflussen, dass sich die Erde andersherum drehen würde. Danach hatte ich immer, wenn ich zu Hause den Strudel andersherum drehte, die lustvolle Befürchtung, dass durch einen seltsamen Zufall alle Menschen auf der Welt in diesem Moment das Gleiche tun und damit eine Umwälzung des gesamten Planeten auslösen würden.So kniete ich über der Wanne, den ausgestreckten Zeigefinger im Wasser, und rührte eine neue Eiszeit herbei, das Verlöschen der Sonne, die Vertauschung von Tag und Nacht, Winter und Sommer, die Aufhebung der Schwerkraft, allnächtliches Polarlicht über dem Grunder Spargelacker, der hinter unserem Haus begann, oder zumindest den Richtungswechsel der Windungen von Schneckenhäusern und der Anordnung von Samenanlagen in Kiefernzapfen und Sonnenblumen.
    Sonnenblumen wuchsen auf den Feldern neben dem Spargel, davor lagen die Güterzugschienen, und davor lagen Andreas und ich. Wenn der Zug über die Münzen donnerte, gab es ein hässlich knirschendes Geräusch, so als würde es ihn gleich in Stücke reißen. Funken sprühten unter seinen Rädern. Ich war jedes Mal überzeugt, der Zug würde jetzt aus den Schienen springen und auf uns kippen. Entgleisen, das Wort musste ich immer sagen, ich konnte darin die Feuerfunken von Eisen auf Eisen zischen hören.
    Einmal sahen wir, wie der Lokführer im Führerhäuschen aufstand, mit dem Finger auf uns zeigte, eine Faust ballte und sie drohend in unsere Richtung schüttelte. Ob er merkte, dass wir ihm immer etwas auf die Schienen legten, oder wollte er uns nur aus der Nähe der Gleise verjagen? Ich frage mich heute noch, ob er die Pfennige spüren konnte. Damals dachte ich nur, dass der Zug jetzt endgültig entgleisen würde.
    – Jetzt entgleist er. Er entgleist jetzt. Andi.
    Andreas sagte nichts, er sagte damals schon wenig.
    Die Münzen waren danach heiß, doppelt so groß und halb so dick. Die Eins und das Eichenblatt waren kaum noch zu sehen. Sie sahen sehr antik aus, und wir spielten, dass sie zu dem Schatz gehörten, den wir in den Sandbergen zu heben gedachten. Dabei taten wir so, als gehöre uns das gesamte Kieswerk mit seinen Türmen, Schwimmbaggern,seinen verschiedenen Kieselsorten und den Fließbändern, die unter den Sandbergen entlangliefen und diese von innen her aushöhlten.
    Es gab dort kleinere Berge mit dicken, schweren Steinen, die sehr wehtaten, wenn man barfuß darauf kletterte. Die mittelgroßen Hügel aus mittelgroßen Kieseln wurden im Sommer am heißesten, wir verbrannten uns auf ihnen die Fußsohlen. Die großen Berge mit den kleinen Kieseln waren auch nicht einfach zu besteigen, sie kitzelten unerträglich, und wir rutschten bei jedem Schritt wieder einen

Weitere Kostenlose Bücher