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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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halben Schritt zurück. Eigentlich konnte man gar nicht auf sie klettern, es kam mir eher vor, als träte man so lange auf der Stelle, bis der Berg flach war. Und dann waren dort noch die riesigen Sandberge mit dem hellgrauen, groben Sand für Zement. Er staubte und rieselte, aber unter der obersten Schicht blieb er auch in der größten Sommerglut immer kühl und feucht. Nach diesem Sand roch der ganze See. Er färbte das Wasser hellgrün und türkis. Er brach und rutschte, und wir rutschten mit ihm steil hinab in den See, wo das Wasser gleich mehrere Klafter tief und so kalt war, dass uns beim Hineinstürzen die Luft wegblieb. Ein Klafter war das Maß der ausgebreiteten Arme, klaffende Erdspalten, Kliffspringer, Tauchvögel mit ausgebreiteten Schwingen, das waren wir.
    Joachim schrieb mir neulich, dass alle Sandberge demnächst weggeschafft würden, wohin, wusste er auch nicht genau. Heidrun war damals verärgert, als ich ohne die Turnschuhe nach Hause kam, sie waren noch nicht alt gewesen und hatten, wie sie sagte, Geld gekostet. Sicher bin ich nicht die Einzige, deren Sachen im Sand verschüttet worden sind, wer weiß, welche Schätze sie dort heben werden.
    Irgendwann kam Lutz dazu. Andreas kannte ihn besser als ich. Er wohnte ganz bei ihm in der Nähe, aber nurim Sommer und an manchen Wochenenden. Außerdem kannte Andreas alle Leute in Grund. Als Kind hatte er seinen Vater dabei begleitet, wenn dieser die Briefe austrug, später machte er es anstelle seines Vaters und gegen Geld als Ferienjob. Andreas fragte Lutz, ob er mit ihm an den See wollte, und er wollte. Ich fragte mich, ob es Andreas peinlich war, dass er so viel Zeit mit einem Mädchen verbrachte. Andreas und ich gingen nicht miteinander. In gewisser Weise beschützte er mich davor, mit anderen Jungen gehen zu müssen. Er war gut aussehend genug, um mit ihm gesehen werden zu können, aber er war mir vertraut genug, um mich nicht zu verunsichern. Ich wollte keinen Freund, ich war ständig in irgendjemanden verliebt, meist heimlich und unerwidert, das reichte völlig. Mit Andreas war ich nicht verkrampft und lernte trotzdem etwas über Jungen. Ich glaubte, ihm würde es mit mir ähnlich gehen. Aber vielleicht wollte ich es auch nur glauben, damit alles so bleiben konnte, wie es war.
    Mit Lutz änderte sich etwas. Das Gleichgewicht wurde gestört. Das war wie mit den Ochsenfröschen im Baggersee. Lutz brachte alles in Gefahr. In den ersten Jahren machten wir nie etwas zu dritt, Andreas und Lutz unternahmen Dinge zu zweit. Ich war nicht eifersüchtig, im Gegenteil, es war gut, dass Andreas nicht nur mit mir zusammen war, es begann komplizierter zu werden zwischen uns, jetzt, wo wir nicht mehr spielten. Reden konnte man nicht mit Andreas, er sprach ja kaum, und ich war mir nicht einmal sicher, ob er mir immer zuhörte.
    Lutz kannte ich nur flüchtig, wir grüßten uns, er sah gut aus und wusste es, und er lief durch die Gegend mit der Gewissheit, alles drehe sich nur um ihn. Es stimmte: Die Luft um ihn herum rotierte wie ein Badewannenstrudel, und alles, was in seine Nähe kam, wurde davon erfasst. Da ich mich jedoch von frühester Kindheit an mit dieser Art vonStrudelphänomenen befasst hatte, glaubte ich zu wissen, wie man gegensteuerte, und fühlte mich sicher.
    Außer dass er gut aussah, wusste Lutz noch manches Andere. Er wusste zum Beispiel, bei wem man Gras kaufen konnte und wo in Hülle und Fülle magische Pilze wuchsen, nämlich auf dem Sportplatz neben der alten Turnhalle. Ich konnte sehen, dass er auch etwas über Frauen wusste. Er hatte immer eine Freundin in Grund. Meistens zwei pro Sommer. Die Mädchen kannte ich natürlich, sie waren auf meiner Schule oder in meinem Konfirmandenunterricht gewesen, oder unsere Eltern kannten sich, wir waren hier schließlich auf dem Dorf. All diese Mädchen hatten gemeinsam, dass sie sehr hübsch waren und ihrerseits etwas über Jungen wussten.
    Nach dem Abitur ging ich zum Medizinstudium nach Freiburg. Meine besten Noten hatte ich zwar in Deutsch und Latein, aber Lehrerin wollte ich nicht werden und Juristin auch nicht. Nein, es galt, Menschen zu retten, vorzugsweise Babys und am besten in Afrika. Außerdem hatte ich so einen guten Notendurchschnitt, da wäre es Verschwendung gewesen, ein Fach ohne Numerus clausus zu studieren. Eine Ärztin ohne Grenzen wollte ich sein. Der Klang dieser Worte hatte eine geradezu erotische Wirkung auf mich, ohne Grenzen, das hieß frei und entfesselt und hatte etwas Wildes und

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