Vom Schlafen und Verschwinden
sind bepflanzt. Auf manchen stehen Kräuter in Terrakottatöpfen, von anderen baumeln Blumenampeln. Auf dem Balkon genau gegenüber wächst sogar eine kleine Birke im Topf. Überall wuchert und blüht es, das ganze Jahr hindurch, und die Stadtbewohner stellen sich gusseiserne Tischchen und regenfeste Korbstühle in ihr Pflanzendickicht und manchmal sogar Schnittblumen in einer Vase auf den Tisch. Es tut mir leid, dass sie von ihren grünen Inseln aus auf meinen Müllbalkon schauen müssen, aber ich vergesse ihn einfach. Er bekommt zwar ein paar Stunden Morgensonne, aber meinen Tee trinke ich lieber im Nachthemd am Tisch. Ich gehöre nicht zu diesen Leuten, die stundenlang frühstücken, ja, sich sogar zum Frühstücken irgendwo verabreden, in einem Café oder eben auf ihren Balkonen. Wenn ich an die Luft will, gehe ich zur Haustür hinaus, hinunter an die Elbe oder zumindest in den nächsten Park.
Die Kleingärtnerei auf dem Balkon, wo man hinterher die Erde wegfegen muss, in der man zuvor gewühlt hat, finde ich im besten Falle befremdlich, im schlechtesten bedrückend. Der Balkon ist der einzige Ort in meiner Wohnung, an dem mir immer bewusst wird, dass ich in der Großstadt lebe. Es riecht dort nach feuchtem Putz, nach Entlüftungsschachtluft und, wenn es regnet, nach rostigen Gitterstäben. Je nach Windrichtung kann ich an bestimmten Tagen die Glastür nicht einmal auf Kipp stellen, weil durch den Spalt der süßliche, verbrannte Dunst aus einer der Kaffeeröstereien am Hafen dringt, der mir immer eine leichte Übelkeit verursacht. Aber vielleicht lerne ich das noch, mit dem Balkon zu leben, eine Bonsai-Wildnis anzulegen, mit einem Messbecher zu düngen und einem Schäufelchen zu graben, einen elektrischen Springbrunnen aufzustellen und vielleicht ein paar Kolibris dort zu halten. Möglicherweise kann ich zahme Schmetterlinge aussetzen, vielleicht frage ich im Gartencenter nach Tüten mit Insektenpuppen und kaufe mir eine Handvoll Zitronenfalter oder doch lieber eine Mischung »Bunte Sommerwiese«.
Nun, wenigstens die Spinnen haben sich in der Stadt eingelebt und ihre Netze zwischen die Gitterstäbe meines Balkons gehängt. Jeden Abend warten sie im Verborgenen darauf, dass ich das Licht in der Küche anmache. Mücken gibt es auch in der Stadt.
Und dann die Vögel. Jetzt höre ich schon Hunderte oder Tausende, ihre Stimmen prallen an den Mauern ab und werden hin und her geworfen wie Squashbälle, nah, entfernt, eine Antwort, eine Frage, ein Echo. Sie sind überall. Wenn der Tag für uns Menschen in der Stadt anfängt, sind sie längst schon wieder still und versteckt. Vereinzelt sehe ich Vögel in der Stadt, doch nie diesen gewaltigen Chor.
Nur schmutzige Tauben mit Geschwüren an den Füßen vögeln unter hastigem Flügelklatschen in den Schächten der U-Bahn. Auf einem Schlafkongress in Paris habe ich einmal in einem U-Bahnschacht gehört, was auf dem anderen Bahnsteig gesprochen wurde. Obwohl die Leute flüsterten, waren ihre Stimmen ganz nah an meinem Ohr. Gerade weil sie flüsterten, ihre Stimmen unterdrückten, waren sie zu hören.
Verstanden habe ich trotzdem nicht viel, sie sprachen ja Französisch. Später hat mir ein Kollege erklärt, dass der elliptische Aufbau des Gewölbes dieser Metrostation die Schallwellen vom einen Brennpunkt zum anderen leitet, obwohl die beiden Punkte weit auseinanderliegen. Seit ich mich hier in der Stadt so viel in unterirdischen Schächten und Gängen aufhalte, von keinem erkannt werde und doch alle anstarren muss, sehe ich überall Sinnbilder für alles Mögliche, meistens aber für so etwas Banales wie »die Einsamkeit des Menschen« und »die Vergeblichkeit von Liebesverstrickungen«: Zwei körperlose Stimmen berühren sich in einem Konstrukt der Auslassung, ohne sich je miteinander zu unterhalten.
In den paar Griechischstunden, die wir als Ärzte bekommen, lernen wir natürlich nicht, dass Ellipse Auslassung bedeutet, das hat mir Joachim als Kind eingebläut, wenn er meine unvollständigen Sätze tadelte. Sprich nicht in Ellipsen, Ellen. Die elliptischen Zehen der Großstadttauben verfolgen mich bis in meine Träume, meine Wachträume, meine nächtlichen Hirngespinste. Wer sagt mir, ob ich schlafe oder wache?
Neulich kam ich spät aus dem Krankenhaus, und da hörte ich mitten in der Stadt an einer vierspurigen Straßenkreuzung eine Nachtigall. Sie sang und sang und hörte gar nicht mehr auf. Sie sang sich das Herz aus dem Leibe und zerschmiss dabei das meine auf
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