Vom Schlafen und Verschwinden
der Stelle in tausend Stücke. Ich hätte mich fast in den Matsch gekniet und geweint. Wenn einen die Natur in der Stadt überfällt, ist man immer gleich so entwaffnet. Ein Regenbogen über der Reeperbahn lässt alle Menschen plötzlich aufschauen, und beim Abendessen wird darüber geredet, von wo nach wo er gereicht hat und ob es ein doppelter gewesen ist. Ein Regenbogen auf dem Land wird freundlich zur Kenntnis genommen, aber keinem würde einfallen, sich später darüber auszutauschen. Vielleicht werde ich irgendwann einmal urban genug sein, um in der U-Bahn nicht mehr zu starren und meinen Balkon in eine ländliche Idylle zu verwandeln. Ob ich fürimmer in der Stadt wohnen werde? Ein Gedanke, so unvorstellbar wie wahrscheinlich.
Topf und Becher stelle ich in die Spüle und gehe zurück ins Schlafzimmer. Bald ist es Morgen. Die Socken streife ich ab. Wenn ich mit Socken schlafe, habe ich am nächsten Morgen Kopfschmerzen, darüber kann ich ja meinen nächsten Vortrag halten: Es ist bekannt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass zu viel Wärme schädlich ist für den Schlaf, aber weiß man etwas über die somatischen Abläufe bei zu warmen Füßen während des Schlafs? »In jedem Lebewesen«, sagt Aristoteles, »strebt das Warme natürlicherweise nach oben. Hat es die oberen Regionen erreicht, sammelt es sich, ändert seine Richtung und strebt abwärts.« Das macht uns schläfrig. So weit, so gut. Wenn das Warme beim Abwärtsstreben jedoch wieder auf Warmes trifft, nämlich auf sehr warme Füße, die aufgrund wollener Socken nicht abkühlen können, strebt es wieder in den Kopf und wieder hinab, und das wiederholt sich die ganze Nacht hindurch, bis der Kopf überhitzt und der Schlafende mit Schädelweh erwacht.
Vielleicht sollte ich einmal EEG s von Schlaflabor-Patienten mit und ohne warme Socken machen. Oder ich könnte meiner Kulturgeschichte des Schlafs ein weiteres Kapitel über die ambivalente Wirkung von Wollsocken hinzufügen, denn mit kalten Füßen ist an Schlaf erst gar nicht zu denken.
Obwohl mich dieses Buch um den Schlaf bringt, bin ich froh über die Arbeit. Das, was ich im Schlaflabor tue, gewinnt plötzlich an Tiefe, wird räumlich. Hinter den meterlangen Krakeln auf den Ausdrucken meines Polysomnografen sehe ich jetzt ein weites Gebirgsmassiv aufschimmern. Und wenn ich die spitzen schwarzen Kurven, die mir Hirnströme, Augenzucken, Muskelspannungen, Atmungsaussetzer und Erektionen anzeigen, betrachte und auswerte, begreife ich, dass diese Zickzacklinie in Wirklichkeit nurdie Kontur der vordersten Bergreihe ist. Das große Massiv erstreckt sich jedoch erst vor meinem Auge, wenn ich über diese vorderste Bergkette hinausschaue.
Auf meinen kulturgeschichtlichen Nachforschungen über den Schlaf habe ich mich in Höhlen begeben, in Abgründe, in die Unterwelt selbst und in schwindelerregende Höhen, wo die Sicht gut und die Luft dünn ist. Und weil ich langsam ahne, wie es hinter den feinen Schlafspindeln meines Elektroencephalografen aussieht, habe ich inzwischen viel mehr Freude an diesen Spindeln als vorher. Umso wichtiger ist es, dass ich endlich meine Einleitung zusammenschnüre und das Ganze auf den Weg bringe.
Ich werfe mich ins Bett, die Laken sind abgekühlt. Die Umrisse der Schatten auf den Wänden haben sich verändert, sind gewandert oder schiefer geworden. Die dunklen Streifen scheinen jetzt noch schärfer umrissen, und die hellen leuchten. Auf den Wecker schaue ich lieber nicht. Er soll bleiben, wo er ist.
Eifersüchtig bin ich damals nicht auf Lutz gewesen, aber als er mich fragte, ob ich Lust hätte, mit ihm und Andreas zum Drachenfliegen in den Schwarzwald zu fahren, blickte ich zunächst zu Andreas. Für einen Augenblick war dessen Gesicht auf eine seltsame Weise angespannt. Aber im nächsten Moment zuckte er die Schultern und nickte zustimmend. Also sagte ich zu. Mein Liebeskummer um den Arzt ohne Grenzen war zwar immer noch nicht überwunden, aber ich merkte, dass ich mich nicht mehr nur ausruhen konnte, sondern in eine neue Phase eintreten musste, die der Zerstreuung.
Wir fuhren mit Lutz’ Auto, einem weißen, großen Citroën, in den Schwarzwald. Wir kamen an der Ausfahrt nach Freiburg vorbei, und es gab mir einen Stich. Auf dem Dachgepäckträger des Autos waren lange Stangen festgeschnallt, wir fuhren nicht schnell, ich saß hinten, denn der Beifahrer musste die Karte lesen, und mir wurde schlecht beim Lesen im Auto. Andreas hingegen studierte seit zwei Semestern
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