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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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Gedanke ließ mich auf der Stelle gefrieren. Nun konnte ich weder vor noch zurück. Bei jeder Bö schwankte das Brett, und die Stelzen knarrten. Meine Finger, die ich in die Dachpappe geschlagen hatte, waren klamm und steif. Ich fürchtete mich, laut zu schreien, denn schon ein tiefes Atemholen hätte vielleicht mein Gleichgewicht gestört. Ich versuchte, ruhig zu atmen, ich musste mich auf meine Atemzüge konzentrieren, mein Atemzug, er durfte mir nicht entgleisen. Es ratterte in meinen Ohren, und ich sah die geballte Faust des Zugführers. Ich wusste, wenn er sie schüttelte, würde der ganze Steg ins Wanken geraten und ich hinunterfallen mit ausgebreiteten Armen, und keine gnädige Göttin würde mich in einen Tauchvogelverwandeln. Denn unter mir waren Steine, an denen mein Schädel zerschellen würde. Zerschellen, das Wort klang nach Koralleninseln im Indischen Ozean, mit sonnendurchflutetem Wasser und Tritonshörnern am Strand, die dunkel nach mir riefen. Zerschellen, Ellen, Ellen, das waren keine Tritonshörner, das war Andreas.
    – Ellen!
    Er war schon auf dem Steg und lief die Rampe hinunter, ich sah es nicht, aber ich spürte seine Schritte in meinem Körper. Jetzt stand er hinter mir.
    – Komm zurück, Ellen, spinnst du jetzt?
    – Ich kann nicht.
    – Du musst, los, komm schon.
    – Ich kann nicht, Andreas.
    Andreas hatte mich noch nie heulen sehen, ich heulte ohnehin nur, wenn es nicht drauf ankam. Auch jetzt heulte ich nicht, aber irgendetwas musste in meiner Stimme gewesen sein. Jedenfalls setzte sich Andreas dicht hinter mich, seine Beine hingen links und rechts neben mir herunter. Er schlang die Arme um meinen Bauch.
    – So, und jetzt rutschen wir rückwärts wieder hoch.
    Und das taten wir, Zentimeter für Zentimeter.
    Als unter uns wieder der Boden zu sehen war, hielten wir inne. Meine Fingerkuppen bluteten. Andreas nahm meine Hände und blies auf meine Fingerspitzen. Er behielt meine Hände in seinen Händen, beugte sich über sie und küsste sie. Erst die Handrücken, dann drehte er meine Hände behutsam nach außen und küsste die Handinnenflächen, seine Lippen waren warm. Er saß immer noch hinter mir, mein Rücken berührte seine Brust. In meinem Bauch wurde es warm. Ich zog ihm meine Hände weg, drehte mich auf dem Brettersteg um, sodass wir uns rittlings gegenübersaßen. Ich nahm sein Gesicht zwischen meine blutenden Finger und küsste ihn leicht auf den Mund. Er küsste mich zurück, aberanders, nicht leicht, nicht wie mein guter Freund, nicht wie ich es erwartet hatte. Er zog mich zu sich, und ich hielt ihn mit den Beinen umschlungen. Und so saßen wir plötzlich auf der Rampe und küssten uns, als hätten wir nie etwas anderes getan und nie etwas anderes gewollt. Ich war verblüfft und verwirrt, und irgendwann schnappte ich nach Luft und schaute ihn an.
    – Runter da!
    Wir zuckten beide so zusammen, dass wir wirklich fast gestürzt wären. Obwohl unter uns nicht mehr das kalte Nichts wehte, so wäre es immer noch ein Sturz aus vier Metern Höhe ins Unterholz gewesen.
    – Ich sagte, runter da, das ist nur für die, die fliegen können.
    Lutz stand am Fuß der Rampe wie ein Wesen aus einem chinesischen Fantasyfilm. Er hatte die schwarze Daunenjacke und schwarze Skihosen an und eine schwarze Balaclava über dem Gesicht. Seine Hände steckten in schwarzen Handschuhen. Auf erhobenen Armen trug Lutz ein Trapez aus Aluminiumstangen und darüber einen gewaltigen roten Drachen.
    Seine Augen glitzerten aus den Löchern der Maske.
    – Platz da, ihr Erdenwürmer, hier kommt Lutzifer.
    Wir richteten uns unbeholfen auf, polterten das Brett hinab und sprangen auf den Boden. Lutz lief mit seinem Drachen die Startrampe hinauf, das Segel rauschte und knatterte. Wir folgten ihm langsam. Lutz stand für ein paar Sekunden oben auf dem Knick, und plötzlich fing er an zu rennen, er lief die Rampe hinunter, er rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her, den ganzen Steg hinab, und je näher er dem Abgrund kam, desto schneller wurde er, und am Ende der Rampe blieb er nicht stehen, sondern rannte weiter und fiel wie ein Stein hinab in die Tiefe. Ich schrie auf. Doch im nächsten Augenblick schnellte er nach oben, alshabe man an einer Schnur gezogen. Er lag waagerecht in der Luft, das Trapez mit den Händen umklammert, stieß einen langen Schrei aus, dann flog er durch die Luft. Sein roter Drachen leuchtete in der Sonne.
    Der Lichtfleck am Ende der Rampe war verschwunden. Wir standen im Schatten und

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