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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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Kartografie an der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Während der Semesterferien trug er wie eh und je im Dorf die Briefe aus. Es war klar, wer vorne sitzen durfte.
    Lutz rauchte im Auto, und mir wurde auch ohne Kartenlesen schlecht. Die Kurven der steil bergauf führenden Straße machten alles noch schlimmer. Ich wusste nicht, wo im Schwarzwald wir uns befanden, es war mir auch egal, solange wir irgendwann einmal ankamen und ausstiegen. Lutz schaute in den Rückspiegel und musterte mich scharf, die Zigarette klemmte zwischen seinen Lippen. Er grinste mich an.
    – Ellen, deine Wangen sind weiß wie Schnee.
    Und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu:
    – Und deine Nase ist grün wie das glitschige Moos auf den Steinen des Waldes.
    Ich warf meinerseits einen Blick in den Rückspiegel.
    – Lutz, deine Stimme gleicht dem Gebrumm der schillernden Schmeißfliege. Und deine Worte sind blöd wie die glitschigen Kötel der Häslein des Waldes.
    Andreas prustete kurz in seine Landkarte, ich wusste, dass ihn diese Art von Dialogen amüsierte. Ich hatte ihm zuliebe so geantwortet, eigentlich war mir zu übel, um mich in Hexametern zu zanken. Lutz’ Augen im Rückspiegel wurden schmaler, sein Grinsen spöttischer.
    – Ei potz Blitz!, rief er in künstlicher Entrüstung, was ist denn da auf der Rückbank los?
    Ich stierte durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Das Einzige, was gegen Übelkeit half, war, im Auto zu singen, aber ich schämte mich vor Lutz.
    – Lutz, sagte Andreas ruhig, wirf die Kippe weg.

    Andreas sagte so selten etwas, dass alle immer gleich machten, was er sagte, wenn er denn einmal etwas sagte. Lutz blies mir einen Kuss in den Rückspiegel und schnippte die Zigarette aus dem Fenster. Ich neigte huldvoll den Kopf.
    Andreas zuckte die Achseln.
    – Geht doch, sagte ich und hörte selbst, wie steif und sittsam ich klang.
    – Wir sind sowieso da.
    Lutz hielt an, ich stürzte hinaus. Die Luft schlug mir kalt entgegen, ich atmete tief ein. Es stach in meinen Bronchien, ich musste husten. Mir war nicht klar gewesen, wie hoch wir hier sein würden. Ich hatte keine Jacke mitgenommen. Lutz und Andreas waren inzwischen auch ausgestiegen. Andreas zog sich einen schwarzen Wollpulli an. Lutz hatte sogar eine Daunenjacke mit, aber er musste ja noch fliegen. Die Jungs wollten den Drachen zusammenbauen, das dauerte bestimmt eine ganze Weile. Ich lief im Wald herum und versuchte, warm zu bleiben.
    Recht bald stieß ich auf eine breite Schneise, die in den Wald gehackt worden war und auf der sich eine große Holzrampe befand. Die Rampe bestand aus einem Steg, der mit Dachpappe bespannt war und auf hohen Holzstelzen stand. Ich wollte wissen, wie es von da oben aussah, und folgte dem Steg zunächst in einem stumpfen Winkel ungefähr zehn Meter aufwärts. Am höchsten Punkt erst sah ich, dass der Steg im gleichen Winkel wieder nach unten abknickte, um nach etwa sieben Metern plötzlich mitten in der Luft aufzuhören. Er brach einfach ab, darunter war nichts, Luft, ein Abgrund, und darunter, weit darunter, der Fels. Denn hier oben, wo um mich herum die Bäume abgeholzt waren, konnte ich sehen, dass ich nicht auf einem einfachen Berg stand, der die kegelförmige Behäbigkeit eines Sandhügels besaß, sondern über einer Schlucht.
    Vorne auf der Rampe, ganz am Ende des Brettes, warSonne. Ich fror mittlerweile so sehr, dass mir dieser Fleck orangefarbenen Lichts wie eine Verheißung erschien. Bis zum Knick war der Weg nicht weiter schwierig gewesen, doch um an die Sonnenstelle zu kommen, musste ich über die Grenze des Abgrunds hinausgehen. Wäre das Brett waagerecht gewesen, hätte ich mich vielleicht nicht so gefürchtet, aber da es nach unten hin abfiel, hatte ich das Gefühl, ich würde bei einem Windstoß oder unbedachten Schritt einfach herunterkollern.
    Ich machte einen Schritt über den Knick hinaus. Der Winkel war doch spitzer, als er mir vom Wald aus erschienen war, es ging ziemlich steil nach unten. Nach ein paar Schritten hatte ich solche Angst, dass ich mich auf den Steg setzte und mich Stück für Stück auf dem Po zum Ende der Rampe hin bewegte. Um mich herum wehte ein kalter Wind. Sobald kein Waldboden mehr unter mir war, blies es noch stärker und eisiger von unten herauf. Ich krallte mich mit den Fingernägeln in die weiche Dachpappe und rutschte weiter hinab.
    Gleich hatte ich das Sonnenstück erreicht, aber wie sollte ich wieder zurück? Drehen konnte ich mich nicht auf diesem schmalen Brett. Der

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