Vom Schlafen und Verschwinden
selbst, ordentlich, vorbildlich gepackt und für niemanden eine Last. So muss er schon als Kind gewesen sein, es hat ihm das Überleben gesichert. Ich weiß nicht allzu viel über Joachim. Zwar spricht er gern von sich und seiner Kindheit, aber eher in Form von kleinen Lehrstücken, auf einen bestimmten Zweck hin erzählt. Leerte ich früher meinen Suppenteller nicht bis auf die letzte Buchstabennudel, so erfuhr ich, dass er als Kind »im Kriech« die Kartoffelschalen aus dem Mülleimer der Nachbarn holen musste, damit seine Mutter sie kochen konnte.
Hatte ich einmal Angst, erzählte er mir, wie er sich auf dem Heimweg von der Schule in einem Luftschutzkeller verstecken musste. Aber er war auf so vielen Schulen gewesen, war es in Erfurt, im Ruhrgebiet, in Seelenfeld, in Gießen? Neun Schulwechsel und dennoch ein glänzendes Abitur, auch das war eine Geschichte, die ich bei unterschiedlichen schulischen Anlässen zu hören bekam. In jenem Luftschutzkeller also versteckte er sich, während über ihm die Flugzeuge Bomben abwarfen. Es waren noch viele andere Leute in diesem Keller, er kannte keinen von ihnen, war einfach von Fremden hineingezerrt worden, so wie das damals eben gewesen sei, im Kriech.
Ich lernte den Unterschied zwischen Krieg und Kriech. Über den Krieg sprach man in der Schule, das waren Jahreszahlen, traurige Bücher und ein bestimmter Schwarz-Weiß-Film mit marschierenden Menschen und Hitlers schnarrender Stimme vom Band, mit einem Berg von Brillen und einem anderen Berg von Goldzähnen aus den Konzentrationslagern, bei deren Anblick immer welche das Klassenzimmer verlassen mussten. Ich habe diesen Film von der sechsten bis zur dreizehnten Klasse einmal pro Schuljahr gesehen, und jedes Mal gingen ein paar Schülerinnen und manchmal auch eine Lehrerin hinaus und weinten. Wenn das Licht anging, waren alle, die dringeblieben waren, verschwitzt und schweigsam, und nachts träumten wir kollektiv davon, dass wir Monster waren.
Mit zehn Jahren sah ich den Film zum ersten Mal. Im Keller meiner Eltern stand eine Sauna, und an jenem Abend hatten wir sie angeheizt. Heidrun war schon drin, hatte aber irgendetwas vergessen und wollte, dass ich es holte, den Aufguss, ein Handtuch, vielleicht etwas anderes. Also hämmerte sie von innen gegen die Tür und schaute durch das kleine Fenster zu mir, gestikulierte und rief. Ich sah sie und fing sofort an zu hyperventilieren, der Ofen, die Kammer, das kleine Fensterchen in der Tür. Durch die Überdosis von Sauerstoff bekam ich Krämpfe in den Händen, die an den Handgelenken abklappten wie bei einem Hund, der Männchen machte. Mir fiel ein, dass Joachims Mutter an Lupus gelitten hatte, ich wusste nicht, was das genau war, nur dass es zu Versteifungen der Hände geführt hatte. Meine Krallen sahen aus wie Wolfspfoten, Lupus, der Wolf, so hatte sich Hitler genannt. Ich saß also auf dem Kellerboden und glaubte, mich in einen Wolf zu verwandeln oder wenigstens in einen deutschen Schäferhund, Blondchen, Blondie, wie hieß diese Bestie noch gleich?
Heidrun knallte die Klinke der Sauna herunter und stieg nackt heraus. Ihre bloßen Füße klatschten auf dem Estrich, als sie auf mich zuschritt. Sie war wütend. Sie wurde immer wütend, wenn sie sich sorgte. Sie schüttete eine braune Papiertüte mit Tulpenzwiebeln auf den Boden und zwang mich, in die leere Tüte zu atmen. Die Tüte roch scharf und dumpf zugleich, nach Erde und Keller. Ich hörte auf zu keuchen, und meine Hände wurden wieder beweglich. Heidrun verlangte zu wissen, was los war, und ich wollte ihr von dem Schwarz-Weiß-Film erzählen mit den Bergen von Goldzähnen. Vom Fußboden aus konnte ich Heidruns eigene Goldkronen an den oberen Backenzähnen sehen. Ich schwieg.
Wölfe können selbst durch noch so lautes Geheule nichtsungeschehen machen. Hätte ich es ihr erzählt, hätte ich mich vielleicht besser gefühlt, aber welche Berechtigung hat man überhaupt, sich besser zu fühlen? Besser fühlen, besser wissen, besser sein. Da ist es nicht mehr weit zum Übermenschen. Anteilnahme kann auch eine Aneignung von fremdem Leid sein und damit eine wohlfeile Art, sich der Verantwortung für dieses Leid zu entziehen. Also was darf ich fühlen? Das weiß ich nicht, aber vielleicht ist es besser, wachsam zu bleiben für den Fall, dass wir des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollten.
Später sammelte ich die Tulpenzwiebeln wieder in die Tüte, legte sie ins Kellerregal und packte mich selbst auf das untere Brett
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