Vom Schlafen und Verschwinden
Joachim verändert. Heidruns Krankheit hatte uns alle verändert. Meistens war er sowieso bei ihr im Heim. Ich waram Morgen dort gewesen. Ihre Augen waren geschlossen, als ich ins Zimmer kam, doch ihr Atem beschleunigte sich, als ich mich neben sie setzte und ihre Hand ergriff. Ihre Hände waren jetzt weich und weiß wie die einer Dame aus der Stadt. Wie meine eigenen Hände, um die sie sich immer Sorgen gemacht hatte: zu weich, zu klein, nicht zum Arbeiten gemacht.
In Heidruns Zimmer roch es süßlich, nicht nach Verwesung, doch, auch ein wenig nach Verwesung, das war ihr Atem, der diesen Geruch aus ihrem leeren Magen und der unbenutzten Mundhöhle mitbrachte. Es roch nach der Creme, mit der man die trockene Haut einrieb, aber auch nach Moschus, dem »Duft des Todesengels«, wie es eine russische Pflegerin nannte.
Ich glaubte nicht, dass Heidrun sehr von Benno angetan gewesen wäre: zu weich, zu jung, nicht zum Arbeiten gemacht. Aber mit einem Geliebten im Schilf zu liegen und in einem grünen See zu schwimmen war eine Möglichkeit, sich gegen Heidruns tiefen und schweren Schlaf zur Wehr zu setzen. »Achtung, Sogwirkung« stand auf den Schildern am Fluss. Hier am See fühlte ich mich sicher, obwohl gerade ich am besten hätte wissen sollen, dass dies ein Trugschluss war, aber das wusste Benno nicht, obgleich er mit Trug ebenso vertraut war wie mit Schlüssen.
Die Geschichte vom schlafenden Großherzog im Wald hatte ich Benno schon erzählt. Ich blickte über die Wasseroberfläche, eine gelbe Kugelboje für die Stehsegler, zwei Kanadagänse, ein Haubentaucher, und in der Nähe des gegenüberliegenden Ufers trieb ein alter Baumstamm halb unter Wasser. Ich wandte mich Benno zu.
– Benno, siehst du den Baumstamm dort? Er kommt immer weiter an die Wasseroberfläche, weil er verfault und leichter wird. Hier im See schwimmen überall Baumstämme herum. Unter ihnen liegt der Obstgarten einer reichenDame, der Großmutter des jetzigen Kieswerkbesitzers, Frau Louise Jahraus. Es war ein herrlicher Obstgarten mit Quitten von so strahlendem Gelb, dass sie wie eine eigene Lichtquelle wirkten und die Blumen dazwischen immer ein wenig länger blühten als überall sonst. Louise Jahraus war verwitwet und lebte allein in dem großen Haus, das klein war im Vergleich zu seinem Garten. Ihre beiden Söhne waren erwachsen und wussten, dass unter der Erde des Obstgartens eine große Menge Kies lagerte. Die beiden Söhne hatten ein Kieswerk in der Nähe, aber es war nur klein, und wirklich lohnen würde sich der Abbau erst, wenn auf einer viel größeren Fläche gebaggert würde. Sie wussten, dass ihre Mutter von einer Flutung des Grundstücks nichts hören wollte, also schenkten sie ihr zum Geburtstag eine Reise nach Venedig. Louise gefiel es dort sehr gut, auch wenn sie fand, dass es zu viel Wasser und zu wenige Bäume gab. Und als es zu guter Letzt noch anfing zu regnen und zwei Tage nicht mehr aufhörte, als Teile der Stadt unpassierbar und hölzerne Stege aufgebaut wurden, auf denen die Leute wie bei einer Polonaise hintereinander gehen mussten, da brach sie die Reise ab und kam zwei Tage früher zurück als geplant.
Keiner holte sie vom Flughafen ab, da sie auch keinem erzählt hatte, dass sie früher zurückkommen wollte. Als sie mit dem Taxi zu Hause vorfuhr, gab es die kleine Stichstraße nicht mehr, und auch ihr Haus war verschwunden. Wo ihr Garten gewesen war, lag jetzt ein großer See und darin ein blauer Schwimmbagger mit der Aufschrift »Gebr. Jahraus«. Louise stieg aus dem Wagen und stand am Ufer ihres vormaligen Gartens. Weit hinten auf dem See ragte etwas aus dem Wasser, es leuchtete, und sie konnte erkennen, dass es die Krone ihres höchsten Quittenbaumes war, und darin hing eine einzige goldgelbe Quitte, so groß, als hätte der Baum die Kraft aus all seinen Blättern und Früchten genommen und sie dieser einen Quitte eingeimpft.
Louise streifte sich die Sandalen von den Füßen, zog sich die Feinstrumpfhose aus und auch das neue Kleid aus tizianroter venezianischer Seide und stieg in den See. Sie schwamm bis zu ihrem Quittenbaum, auf dessen Ästen sie zu stehen kam, ruhte sich aus und dachte nach. Die Quitte, sie war rund und hart und hatte einen samtigen Flaum um den Stiel herum, schaute sie sich genau an, ließ sie aber hängen. Nach einigen Minuten wurde ihr kalt, und sie schwamm zurück.
Es gibt Leute im Dorf, die behaupten, Louise habe die Quitte gepflückt, sie sei aus purem Gold gewesen und sehr schwer,
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