Vom Schlafen und Verschwinden
vielleicht war es auch nur das Trittbrett oder die Ladefläche eines Güterwaggons. Ich stellte mir aber am liebsten das Dach vor. Die zwei Frauen weigerten sich, den Zug zu betreten, sie wollten auf einen anderen warten, einen, der leerer war. Und so fuhr Joachim allein nach Hause. Er wusste nicht, wo der Zug halten würde, und kletterte irgendwo im Ruhrgebiet, wo ihm die Ortsnamen bekannt vorkamen, wieder vom Dach herunter. Er stieg noch einmal um und lief schließlich zu Fuß vom Bahnhof nach Hause. Seine älteste Schwester war gerade imHof. Sie kniff die Augen zusammen und schaute die Straße hinunter, es dämmerte schon, Joachim winkte und rannte.
Ich habe mich mein ganzes Leben lang gefragt, ob die beiden fremden Frauen es überhaupt je in den Westen geschafft und ob sie jemals wieder an ihn gedacht haben, ob sie sich vielleicht immer noch Vorwürfe machen, ob sie vielleicht aus Schuldgefühlen ihr ganzes Leben geändert haben, ein Kinderheim gegründet, Streetworker geworden sind oder Alkoholikerinnen, Obdachlose, die mit Einkaufswagen auf der Straße herumscheppern, nach kleinen, kurzbeinigen Jungen Ausschau halten und Nagellackentferner trinken, um jenes Bild zu vergessen, wie er auf das Dach kletterte in der Gewissheit, dass sie ihm folgen würden, seine angstgeweiteten Augen, als er merkte, dass sie auf dem Bahnsteig blieben, die ausgestreckte Hand des Jungen. Und sie würden ihre eigenen arthritischen Wolfskrallen vom Einkaufswagen lösen und Passanten anflehen, sie mögen ihnen verzeihen. Es ist eine großartige Vorstellung.
Fürchtete ich mich, so hörte ich davon, wie mein Vater als Fünfjähriger auf einem anderen Bauernhof, bei anderen Verwandten, Angst vor dem Hund des Nachbarn hatte. Beim Milchholen sang er immer so laut, dass der Bauer ihn hörte und den Hund anband. Deswegen, sagte Joachim, könne er so besonders laut singen.
Hatte ich Hunger, erzählte er, wie eine Gruppe deportierter Juden an dem Haus seiner Tante vorbeigeführt wurde und die ausgezehrten Menschen ihnen »Hunger, Hunger« entgegenriefen. Joachim und seine kleine Cousine liefen ins Haus, brachten Brot heraus und wurden hinterher von der Tante angeschrien, weil diese fürchtete, Mildtätigkeit gegenüber Deportierten bringe sie alle in Gefahr. Außerdem hatten sie selbst nichts zu essen, und Verwandtenbesuch machte die Vorräte auch nicht größer.
Hatte ich etwas gefunden, das mich mit Grausen erfüllte, eine überfahrene Katze, einen großen Kuhknochen auf dem Feld, einen Mäusekadaver, der von fetten Maden so angefüllt war, dass er zuckend zu einem neuen, dunklen Leben erwacht zu sein schien, dann erzählte Joachim die Geschichte, wie er und sein Bruder – es war Kriech, und die Mutter war mit ihren Kindern aus der Stadt in eine Hütte im Wald gezogen – einen Toten fanden. Sie verrieten niemandem etwas. Doch am nächsten Tag kamen uniformierte Männer und fragten, ob die Kinder etwas gesehen hätten. Die Kinder schüttelten den Kopf, sie fürchteten sich und wollten den Toten vergessen. Die Männer gingen wieder. Am Tag darauf trafen die Kinder andere Männer. Es waren die polnischen Zwangsarbeiter von der Landwirtschaft am Waldrand. Joachim und sein Bruder konnten nicht verstehen, was sie sagten, aber sie führten sie zu dem Toten im Wald. Die Männer beachteten die Kinder kaum, den Toten jedoch trugen sie fort.
Das waren die Geschichten, Geschichte war es nicht. Ich wusste, dass Joachims Vater ein Pfarrer gewesen war und ein Missionar in Afrika, der an einer Bibelübersetzung in Kisuaheli beteiligt gewesen und im Krieg mit einem Transportflugzeug abgestürzt war. Damals war Joachim vielleicht neun, in der Nacht schaute er zum Himmel hinauf, aus dem sein Vater gefallen und in den er jetzt heil wieder zurückgekehrt war. Siehst du den Mond dort stehen? Irgendwer hatte ihm gezeigt, dass im Vollmond der Reichsadler zu erkennen sei, links und rechts die beiden Flügel und darunter das Hakenkreuz. Es beunruhigte ihn, dass die Flügel des Adlers meistens an irgendeiner Seite angefressen waren. Konnte der Mond abstürzen? Möglich war es, alles war möglich, es war ja Kriech. Joachims Bruder wurde Pilot, als er groß war.
Nach Joachims Erzählungen musste sein Vater ein frommer und guter Mann gewesen sein, aber er blieb in allen Geschichten sonderbar zweidimensional, mehr wie eines dieser Heiligenbildchen, die die katholischen Kinder zum Neid von uns Protestanten in ihren Religionsstunden ausgeteilt bekamen. Gutes von
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