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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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aber vielleicht rief er zuvor etwas anderes und lernte erst im Laufe der Zeit, seinen Namen zu sagen. Vielleicht ist es umgekehrt, und die Vögel sprechen unsere Sprache. Ich meine nicht das, was Papageien tun. Nein, aber möglicherweise nahmen sich diese englischen Meisen ja ein Herz und ließen sich auf das unermüdliche Zwitschern des Vogelkundlers ein. Vielleicht lernten sie seine und nicht er ihre Sprache? Hat ein’ Zettel im Schnabel von der Mutter. Wenn ich ein Vöglein wär, flög ich zu ihm, er kommt nicht zurück. Ich weiß es. Weil’s nicht kann sein.
    Immer wieder stoße ich auf Benno. Er streift durch die Wälder, ein Suchender wie ich. Wir nicken uns zu, tauschen Blicke gegen Höflichkeiten. Mal ist er allein und mal mit Ellen, ich sehe sie nackt in den Wäldern. Er sagt, er müsse das Lager jenes Soldaten finden, über den er ein Buch schreibt. Ich kenne ein Versteck im Wald, aber ich bin nicht die Erste, die es entdeckt hat. Andreas ist schon dort gewesen, ich habe ihn durch das Fernglas gesehen. Er hat mich dorthin geführt, von allein hätte ich es nicht gefunden. Es ist ein riesiges Gebüsch aus Brombeeren, das sich über ei nem Mauerrest aus Feldsteinen wölbt. Die Mauer ist vom Weg aus nicht zu sehen, nur das Brombeergestrüpp. Der Wald ist hier sehr dicht und öffnet sich auf einen Altrheinarm. Nähert man sich dem Versteck vom Wasser aus, sieht man das Mäuerchen unter den Dornen. Doch niemand nähert sich vom Wasser aus. Der Arm ist längst abgeschnitten.
    Pappeln stehen dort, Buchen und Eichen und Robinien und immer wieder Pappeln. Wenn sie ihre Daunen wehen lassen, wate ich knietief durch weiches Nichts, leichtes Gewölk, komm, schwerer Schlaf. So stelle ich mir den Tod vor. Wenn ich ein Vöglein wär. Das Wasser fließt langsam, ich weiß nicht, wohin. In der Mitte des Wassers ist eine flache Stelle. Dunkle Fische stehen dort über dem hellen Sand in der Strömung. Grüne Wolken langfädriger Wasserpflanzen wabern träge um sie herum. Nadelsimsen am Ufer und andere Gräser mit wolligen Blüten, kleine hellblaue Schmetterlinge, die immer ein wenig müde wirken. Als ich dort war, brach ein Reh durch das Gehölz, blieb neben dem Brombeerdickicht stehen, witterte mich und sprang davon.
    Auf der Wiese neben dem Versteck wächst Knabenkraut.
    Und nur die weiblichen Pappeln haben Daunen.
    Ich frage mich, was gewesen wäre, wenn Lutz kein Knabe gewesen wäre. Hätte ich ihn dann noch? Töchter bleiben näher an den Eltern. Ellen hat ein Mädchen, ich frage mich, was wäre, wenn Orla verschwände. Wenn ich sie, wenn sie sich fortmachte, aus dem Staub, Staub. Zu Staub.

Ich liege mit dem Rücken auf dem Bett und schlafe nicht. Auf der Zimmerdecke klebt Raufasertapete, eine seltsame kulturelle Errungenschaft. Hat sie einen Einfluss auf die Psyche? Vielleicht geht es deshalb nie so glatt bei mir? Ich hebe den Arm und lasse ihn nach hinten gegen die Wand fallen, mit dem Handrücken wische ich über die Tapete, alles rau. Allerleiraus Kleider, golden wie die Sonne und silbern wie der Mond, passten in eine Nussschale.
    Andreas fuhr abends oft mit dem kleinen Boot auf den See und angelte. Früher bin ich manchmal mitgefahren. Wenn es mit den Schnaken zu schlimm wurde, zog ich mir im Boot die Schuhe und den Rock aus und sprang mit T-Shirt und Unterhose in den Baggersee. Um diese Tageszeit musste man sich ganz flach machen im Wasser, am besten auf dem Rücken, denn die oberste Schicht war lauwarm vom Tag, doch von unten stieg kalt die Nacht herauf. Die Kondensstreifen der Flugzeuge hatten die Farbe des Inneren einer Muschel und spannten sich kreuz und quer über den Himmel.
    Ich denke an Joachim, an die schnurgeraden Beete seines Gartens, die er tatsächlich mit einer Schnur gerade zieht. Er liebt rechte Winkel und Dinge, die in einer Reihe stehen, vielleicht ist das ein Ausgleich zu seiner Beschäftigung mit Shakespeare oder zu Heidruns Demenz. Joachims Haus wird immer rechtwinkliger und aufgeräumter. Kartons werden gepackt, beschriftet und gestapelt. Rosen werden parallel zum Rosengitter geschnitten, Himbeeren an zwei horizontal verlaufende Drähte gebunden, Verblühtes wird sofort entfernt, Gekipptes festgebunden, Wucherndes entfernt, Überstehendes gekappt. Nach fast vierzig Jahren sieht das Haus wieder so aus wie das, was es ist, nämlich ein Fertighaus. Es sieht gepackt aus, fertig für die Reise, so als müsse es in einen kleinen Kofferraum passen und dürfe keine Mühe machen.

    Es ist wie Joachim

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