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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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ihm reden und alle Dinge zum Besten kehren, so wurde es in Joachims Familie gehalten. Gab es Unstimmigkeiten, wurde gesungen. Zweistimmig, dreistimmig, vierstimmig, Kanons und Choräle von Bach und Paul Gerhardt aus dem Kirchengesangbuch.
    Joachim liebte das kleine schwarze Gesangbuch der Familie. Die Seiten waren zart wie gepresste Blütenblätter, nur viel weicher. Wenn er mit dem Daumen an den gerundeten Ecken entlangfuhr, war das Papier wie Puder auf seiner Haut. Wenn er es schloss, glänzte es seitlich im Schnitt wie blankes Gold. An dem Gesangbuch war zu sehen, dass das Chorsingen etwas Wunderbares war. Die einzelne Stimme war wie eine einzelne Seite, dünn und von unscheinbarer Farbe, zusammen mit den anderen verwandelte sie sich in strahlendes Gold.
    Mein Wunsch, Gesangstunden nehmen zu dürfen, wurde von Heidrun und Joachim mit nachsichtigem Lächeln zur Kenntnis genommen. Sie schickten mich in den Grunder Kinderchor. In Chören gab es keine Diven. Was zu weit hervorstand, in die Höhe schoss oder in die falsche Richtung wuchs, wurde gekappt, gekürzt und festgebunden.
    Die Großmutter von Joachims Großvater hatte sich am Tag der Hochzeit ihres Sohnes umgebracht. Das war mit Abstand das Divenhafteste, was ich mir vorstellen konnte, aber über so etwas wurde nicht gesprochen. Ob sie morgens hinauf auf den Boden gegangen war und sich an einem der Dachbalken erhängt hatte, ob sie sich einen Tee aus Eisenhut gebraut hatte, oder ob sie aus dem Fenster gesprungen war, konnte ich nie in Erfahrung bringen. Es gab einfach keine Geschichte dazu.

    So erfuhr auch nie jemand, wie Joachims Mutter es fand, mit fünf kleinen Kindern allein in Deutschland zu leben, während ihr Mann den Afrikanern das Wort Gottes brachte und Tansania mit Posaunenchören überzog. Was sagte sie, als mitten in den größten Hunger hinein ein dickes Paket kam, die ganze Familie rätselte, ob es einen Schinken oder Zucker oder Geld oder, wer weiß, vielleicht Schokolade barg, und dann lag das Belegexemplar der Bibel in Kisuaheli darin? Seine Stelle in Afrika ging nur über ein Jahr, dann aber hatte er beantragt, sie für ein weiteres zu verlängern. Dem Antrag wurde stattgegeben. Wie dachte seine Frau über die Verlängerung? Und was fühlte sie? Nur ganz nebenbei hörte ich etwas über ihre Nervenzusammenbrüche und Joachims Aufenthalte in einem Kinderheim, in dem er nach eigenen Worten viel gelernt hatte und sehr glücklich gewesen war.
    In den Krieg musste Joachims Vater zum Schluss doch noch, obwohl er Pfarrer war. Wurde er zwangsverpflichtet? Hatte er sich freiwillig gemeldet? Ging er, damit die Kinder gute Schulen besuchen konnten? Er kam aus Afrika zurück, um wieder in Deutschland Pfarrer zu sein, aber eine neue Stelle hatte er noch nicht, also war er abkömmlich und wurde eingezogen. Seine Funktion in der Armee war die eines »Kuriers«. Was bedeutete das? War er ein Spion? Er hatte Beziehungen zur Bekennenden Kirche, kämpfte aber für die Nazis. War er ein Doppelagent? Und wenn ja, wem war er wirklich verpflichtet? Sicher doch dem Widerstand, denn ich hätte gern einen Großvater im Widerstand gehabt. Und warum auch nicht? Fast alle hatten doch mittlerweile einen. Stürzte das Flugzeug damals ab, weil er sich darin befand? Und was trug er bei sich? Er war ein Abenteurer. Vielleicht hatte er einfach keine Lust auf eine depressive deutsche Frau und fünf blonde Kinder.
    Aber Joachim wollte das nicht hören. Vielleicht hatte ichwirklich keine Ahnung. Mag sein, dass nur Menschen mit Mission Missionare verstehen können. Es gibt sogar ein Extrawort für unverstandene Missionare, die getötet werden: Märtyrer. Getötete Soldaten heißen Gefallene oder Helden. Aber vielleicht sind Soldaten ohnehin eine Untergruppe der Missionare. Oder umgekehrt? Jedenfalls fand ich es ganz gut, dass aus Joachims totem Vater weder ein Märtyrer noch ein Held geworden war. Erst viele Jahre nach dem Krieg erfuhr Joachim nämlich, dass das Flugzeug, in dem sich sein Vater befunden hatte, gar nicht abgeschossen worden war, sondern Übergepäck gehabt hatte und abgestürzt war: Randvoll mit italienischen Schuhen sei es gewesen.
    Das Wichtige wurde einem nicht erzählt. Das gehörte zum Krieg. Mit Joachims Geschichten hatte das nichts zu tun. Und viele Jahre später, während sein Bruder durch die Luft flog und sich zum Ziel gesetzt hatte, niemals abzustürzen und auf diese Weise mit jedem Flug anderen Vätern das Leben zu retten, las Joachim elisabethanische

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