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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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der Sauna. Ich schwitzte und schwieg.
    Aber Kriech, das war etwas anderes. Da musste man nicht schweigen, da durfte man solche Sätze sagen wie »das war schlimm« oder »da gab’s ja nichts«. Im Kriech krochen die Kinder, allen voran der kleine Joachim, in Luftschutzkeller und Mülleimer. Joachim erzählte oft, wie die Frauen in dem Luftschutzkeller bei jedem Einschlag aufgeschrien hätten und wie sehr es ihn empört habe, dass Erwachsene Angst haben konnten und diese auch noch zeigten. Seine Mutter schrie nie. Sie war Witwe, sie hatte den Lupus und fünf kleine Kinder. Ich habe sie kaum gekannt. Bevor sie starb, bat sie meinen Vater, das Fenster zu öffnen, damit sie die Vögel hören könne. Diese Geschichte hatte keinen erzieherischen Hintersinn. Ich wusste, dass meine Großmutter eine Heilige gewesen wäre, wenn es im Protestantismus Heilige gegeben hätte, und dass sie nie etwas Unrechtes getan hatte.
    Hatte ich etwas Unrechtes getan, erzählte Joachim mir, wie er mit acht Jahren einen Stift in einem Schreibwarenladen geklaut hatte, es war ja Kriech, und man hatte nichts. Sein Gewissen biss ihn jedoch so erbarmungslos, dass er den Stift von einer Brücke in den Fluss warf.

    Nein, er sei nicht zurück in den Laden gegangen und habe sich auch nicht entschuldigt. Joachim war nicht zufrieden mit dem Ausgang dieser Geschichte, er schaute mich besorgt an. In einer späteren Version hatte er es erst seiner Mutter gebeichtet, und die zwang ihn schließlich, sich beim Ladenbesitzer zu entschuldigen. Ich konnte mich nicht entscheiden, welche Version mir besser gefiel.
    Heidrun erzählte ihre Geschichten beiläufig und meistens mit einem etwas abwesenden Ausdruck, sie schienen ohne Zusammenhang, Pointe oder Lehre einfach herauszufallen, beim Backen, Brombeerpflücken oder Laubharken. Sie erzählte mir oft Geschichten über mich, als ich noch klein war, weil sie wusste, dass ich das mochte. Wie ich geboren wurde, wie mir einmal das Trommelfell platzte, wie ich einem Autofahrer an der Ampel, der seinen Aschenbecher aus dem Autofenster geleert hatte, die Meinung geigte.
    Wenn meine Eltern ausgingen, auf eine Abendgesellschaft oder ins Theater, konnte ich mich in einen hysterischen Erregungszustand hineinsteigern, dessen furioser Höhepunkt darin bestand, dass ich mich in die Toilette übergab. Einige Male blieb einer von ihnen danach bei mir, meistens meine Mutter. Wenn sie resigniert ihre spitzen silbernen Schuhe auszog, war das ein Moment der tiefsten Erleichterung und des höchsten Glücks. Die Schuhe waren meine Feinde, die Silberschuhe und der Duft »Femme« von Madame Rochas. Die einbrechende Dunkelheit und der Geruch dieses schweren Parfüms, das Heidrun immer nur trug, wenn sie mich verließ, reichten schon aus, damit ich mich vor Angst übergab.
    Nach einiger Zeit erkannten meine Eltern, dass ich gar nicht unter plötzlichen Darmgrippen oder leichten Lebensmittelvergiftungen litt. Sie merkten, dass ich sie am Ausgehen hindern wollte. Heidrun erzählte fortan, dass ich »auf Kommando kotzen könne«. Sie benutzte nie Kraftausdrücke, niemals, sie gingen ihr, wie sie sagte, »durch und durch«, aber der Kraft dieser Alliteration konnte sich nicht einmal Heidrun widersetzen. Sie entschloss sich, mein abendliches Spucken zu ignorieren, und so hörte es bald auf. Dieser Geschichte lauschte ich mit gemischten Gefühlen, glaubte ich mich doch immer noch gänzlich im Recht.
    Joachim, auf eine grundsätzliche Art strenger als Heidrun, aber auf eine kindliche Weise mitfühlender, erzählte mir, wie er mit zehn oder elf Jahren allein vom Osten in den Westen flüchtete. Aber vielleicht war er auch schon älter, meistens war er in den Geschichten immer ein bisschen jünger, als ich es gerade war, wenn er sie mir erzählte. Das mochte auch einen erzieherischen Grund haben.
    Seine Familie lebte im Westen, aber weil er stets sauber, ordentlich und gut gepackt war, wurde er gern zu Verwandten geschickt, die nicht so viele Mäuler zum Durchfüttern hatten oder mehr besaßen, das man Verfüttern konnte. Als es bei den Verwandten im Osten gefährlich wurde, brachten sie den kleinen Joachim zum überfüllten Bahnhof. Die Verwandten fragten zwei fremde Frauen mit Kinderwagen, ob sie den Jungen mit hinübernehmen könnten, und gingen fort. Als der erste Zug nach Westen in den Bahnhof einfuhr, wurde dieser von den wartenden Menschenmassen gestürmt. Der kleine Joachim kroch also, denn es war Kriech, auf das Dach des Zuges, oder

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