Vom Schlafen und Verschwinden
Rheinauen. Es war noch mild, aber nicht mehr warm, und der Nachttau kam immer früher. Ich wollte keinen Dschungelsex mehr haben, ich war nicht mehr sechzehn Jahre alt. Selbst meine Tochter würde bald nicht mehr sechzehn sein. Ich hätte ihn in der Badewanne verführt, auf einem Fell vor einem Kamin, und ja, warum nicht auch in einem Bett oder sonst irgendwo, wo es warm war. Ich hatte zwar weder einen Kamin noch ein Fell, nicht einmal eine Wanne, aber immerhin ein Bett, und er hatte auch eines. Doch anBetten war nicht mehr zu denken, als wir an jenem Nachmittag tatsächlich auf das stießen, wonach er so lange gesucht hatte.
Unsere Spaziergänge hatten sich immer weiter ausgedehnt. Unter der Woche musste ich arbeiten, aber am Wochenende gingen wir schon morgens los, nahmen Essen mit und wanderten, bis es dunkel wurde. Danach fuhr ich mit dem Fahrrad zu Heidrun und blieb an ihrem Bett, bis Orla mich dort abholte. Dann fuhren wir nach Hause und aßen zu Abend.
Bei aller Trauer erfüllte mich Heidruns bevorstehender Tod auch mit einer gewissen Erregung. Wir alle wussten genau, worauf es hinauslaufen würde. Am Ende stand der Tod, und das Ende war nah. Ich konnte langsam die Verlockungen von Endzeitsekten nachvollziehen, die wilden Maskenbälle in pestverseuchten Städten, barocke Totentanzbilder. Mit offenen Augen bewegten wir uns langsam auf diese große Ungeheuerlichkeit zu. So schwer und furchterregend es war, auf eine bestimmte Weise, die ich mir nicht eingestehen wollte, kickte es auch.
An Heidruns Bett hing mein Strickzeug. Ich strickte dicke Socken, einen nach dem anderen, unförmige Trauersocken, Tränensäcke für die ganze Familie. Für Joachim, Orla, Benno, die letzten, die ich strickte, waren für mich, ich hatte noch den einen an ihrem Bett anprobiert. Den anderen habe ich nicht mehr fertig gestrickt. Nachdem Heidrun tot war, hörte ich sofort damit auf. Das Gute am Stricken war, dass alles an einem einzigen Faden hing. Während ich an Heidruns Totenbett saß, dachte ich, dass so ein Socken wie das Leben selbst war, man bemühte sich, keine Fehler zu machen, aber manchmal riss etwas, oder es gab Knoten oder Löcher. Das wenigste war irreparabel, aber alle Unregelmäßigkeiten blieben sichtbar. Und natürlich gab es immer andere Frauen, die es besser hinbekamen. Streckenweise ging alles einfach und glatt, da musste man nicht einmal mehr hinsehen, und mal war es unruhig, abwechselnd schlicht und kraus, wodurch sich das Ganze ein wenig zusammenzog. Nadeln wurden stillgelegt und später wieder aufgenommen. An der Ferse, also ziemlich genau in der Mitte, musste man die Richtung wechseln und strickte unbeholfen, aber tapfer um die Ecke. Und schließlich wurde es immer enger und enger, und je weiter man dem Ende entgegenstrickte, desto schneller ging es. So strickte ich mir mit krausen Gedanken und schlichtem Gemüt einen Sinn in das Leben oder den Tod, was dasselbe war, schließlich sahen die rechten Maschen auf links gedreht aus wie linke Maschen und die linken wie rechte.
Beim Stricken überlegte ich mir einen Text für die Todesanzeige. Die Todesanzeige war wichtig. Heidrun liebte Todesanzeigen. Sie hatte selten Romane gelesen, aber oft Biografien, und Biografien waren letzlich nichts anderes als verwässerte Todesanzeigen. Die Todesanzeige war das Konzentrat, ein rundes Leben in einem schwarzen Kasten, die Quadratur des Kreises. Zunächst überflog Heidrun die Seite mit den Todesanzeigen und probierte aus, ob sie bei einem Namen hängen blieb. Daraufhin schaute sie, ob sie den Toten kannte oder zumindest einen der Angehörigen. Falls dies nicht der Fall war, suchte sie nach den großen, teuren Todesanzeigen, am liebsten von Adligen, wegen der Namen und weil die immer so viele Verwandte mit in die Anzeige hineinschrieben. Anhand der Reihenfolge der aufgelisteten Angehörigen konnte Heidrun nicht nur die Anzahl der Kinder, Enkel und Geschwister feststellen, sondern auch, ob die Angehörigen untereinander oder mit dem Toten zerstritten gewesen waren, ob es irgendwo eine zweite Ehe gegeben hatte und ob die Expartner noch miteinander redeten oder nicht. Die Kinder, die in die erste Ehe gehörten, waren die, bei denen kein anderes Elternteil dabeistand,die Namen trugen, die jetzt nicht mehr ganz modern waren, und deren Nachnamen anders waren als die Nachnamen der Personen, unter denen sie standen. Bei den Kindern aus der zweiten Ehe, selbst wenn auch diese nicht den Namen des Angehörigen oder des Verstorbenen
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