Vom Schlafen und Verschwinden
trugen, stand zumindest immer noch der Name einer Partnerin oder eines Partners dabei.
Heidrun mochte keine zweiten Ehefrauen und hegte sofort eine gewisse Feindseligkeit gegenüber den neuen Kindern aus der zweiten Ehe.
– Tristan und Fée, wie kann man denn seine Kinder nur so nennen! Das ist doch albern. Sag was! Das ist doch albern, stimmt es etwa nicht?
Und ich sah, wie ihr Herz aufging für Lukas, Philipp und Johanna, die aus der ersten Ehe stammen mussten.
Dass heute die Ehepartner nicht mehr dieselben Nachnamen tragen mussten, billigte sie zunächst überhaupt nicht, später betrachtete sie es als persönliche Herausforderung. Denn fortgeschrittene Todesanzeigenleser konnten mit etwas Übung auch dann alle Verwandtschaftsgrade und Verhältnisse entschlüsseln, wenn niemand mehr den Namen eines anderen annahm.
Aus dem Satz über der Anzeige entnahm sie, ob die verstorbene Person geliebt worden, eine Last gewesen, ob sie einsam und allein oder von Heuchlern und Erbschleichern umringt gewesen war. »Sie ist erlöst«, stand nach Heidruns Auffassung dafür, dass sich vor allem die Angehörigen erlöst fühlten. Wenn noch ein Ausrufezeichen folgte, so bedeutete das in Heidruns Augen: »Endlich ist sie tot, die alte Schachtel.« Und richtig, gab es ein Ausrufezeichen in der Anzeige, wurde der Tote immer besonders schnell beerdigt oder vielmehr »verscharrt«, wie sie es nannte, »hastig verscharrt«.
Verse, Gedichte, Bibelzitate waren gut, aber bloß nichtsHausgemachtes, das gehörte zum Selbstverwirklichungsauftrag eines Angehörigen und war unwürdig. Schwieriger war es mit den Spenden. Heidrun war hin- und hergerissen und entschied spontan von Fall zu Fall. Einerseits mochte sie die Vorstellung von Blumenkränzen und Schärpen, rot und weiß und golden, auch wenn sie diese nicht zu Gesicht bekam. Auf dem Friedhof trat sie ungehemmt an frische Gräber und zog die Schärpen der Kränze glatt, damit sie die Aufschrift lesen konnte. Schärpen waren die Appendices der Todesanzeigen, kurze Textformeln, die es zu entschlüsseln galt und in denen so vieles nicht gesagt wurde, was dennoch mit in die Blumengebinde eingeflochten war.
Andererseits fand sie es auch aufschlussreich zu erfahren, wofür anstelle von Blumen und Kränzen gespendet werden sollte. War es die Krebshilfe, wusste Heidrun, woran die Person gestorben war, aber das hatte sie meist schon aus der Formulierung »nach langer schwerer Krankheit« entnommen oder »nach kurzer schwerer Krankheit«, je nachdem, wo sich der Krebs angesiedelt hatte.
Herzinfarkte und Schlaganfälle kamen mit den Wörtern »plötzlich« und »unerwartet«, und deshalb wurde dann meistens für etwas gespendet, das weniger mit dem Tod als mit dem Leben der verstorbenen Person zu tun hatte. Manchmal wurde für Vereine gespendet, in denen die Toten Mitglieder gewesen waren, für den Fußballverein, den Kleingärtnerverein »Lachender Apfel«, das gefiel ihr, das hatte etwas Bodenständiges.
Spenden für Brot für die Welt und Misereor billigte sie, sie verrieten zudem die Konfession des Toten, aber dennoch empfand Heidrun solche unpersönlichen Spendenaufrufe immer als Enttäuschung, ja als Zurechtweisung, ähnlich wie getönte Scheiben, die hochgefahren wurden, um die Insassen einer Limousine vor aufdringlichen Blicken zu schützen.Sie fühlte sich in ihrer Neugier ertappt und spürte sofort eine gewisse Abneigung, weniger gegenüber dem Toten als gegenüber seinen Angehörigen. Denn sie ging davon aus, dass diese den Toten nicht gefragt hatten oder zu gleichgültig waren, um etwas auszusuchen, das besser gepasst hätte.
Am traurigsten waren natürlich Kinder und Motorradunfälle, und das Schlimmste waren Kinder auf Motorrädern. Wörter wie »entrissen«, »mitten aus dem Leben« und »unfassbar« im Zusammenhang mit einem Sterbedatum vor dem dreißigsten Geburtstag offenbarten den Schock, unter dem die Familie stand, und sie brachen Heidrun das Herz. Sie konnte am Frühstückstisch über einer Todesanzeige in Tränen ausbrechen. Ein schwacher Trost war es ihr, wenn der Tote mindestens noch zwei weitere Geschwister gehabt hatte, sodass die Mutter einen Grund hatte weiterzuleben.
Nach der Lektüre von Todesanzeigen hatte Heidrun die Gefühle von drei großen russischen Romanen durchlebt und das, noch bevor sie die Spülmaschine eingeräumt hatte.
Autobiografien von Menschen, die noch lebten, fand sie das Letzte: Alles nur Lüge und eitle Selbstdarstellung. Mit Verachtung
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