Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
Vom Netzwerk:
auffällig verzerrt, aber dennoch nicht entspannt.
    Joachim begrüßte Benno herzlich. Er sagte, er habe gehört, dass es ihm schlecht gegangen sei.
    Benno antwortete ihm, dass er krank gewesen sei, aber schlecht sei es ihm eigentlich gar nicht gegangen. Er habe die unglaublichsten Träume gehabt, die man sich vorstellenkönne, und sei fast enttäuscht gewesen, als sie wieder verschwunden seien. Joachim gefiel das:
    – Und wie der Dichter sagt: Des Menschen Auge hat’s nicht gehört, des Menschen Ohr hat’s nicht gesehen, des Menschen Hand kann’s nicht schmecken, seine Zunge kann’s nicht begreifen, und sein Herz nicht wieder sagen, was mein Traum war. Ja, ja, lieber Benno, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt!
    Und er klopfte Benno auf den Rücken, aber ich merkte, dass er sich mehr an seinen Zitaten erfreute als an Bennos Genesung. Benno schien es ihm nicht übel zu nehmen, sondern nickte nur und sagte, dass er das jetzt auch begriffen habe.
    – Schulweisheit!, rief Joachim aus, sie kann gar nichts erträumen!
    – Genauso ist es.
    Und sie schauten sich an, entzückt darüber, dem anderen zu einem guten Gedanken verholfen zu haben.
    Bei dem Liedvers, in dem es um die »schlafraubenden Fantasien, die mein Gemüt verstören« ging, schaute ich zu Benno hinüber. Er erwiderte meinen Blick nicht und sang die Zeile ohne Anzeichen jener inneren Beteiligung, die ich wohl zu sehen gehofft hatte.
    Als ich einmal abends von Heidrun kam und oben auf dem Anleger am alten Hafen saß, genau dort, wo Benno mich einst angesprochen hatte, sah ich ihn, wie er am Ufer stand und eines der alten Holzboote flickte, die dort herumlagen. Dieses Boot hatte er, wie er mir in der Zigarettenpause erklärte, von einem der Schrebergartenbesitzer unten am Hafen gekauft. Benno fragte den Schrebergartenmann, ob er dessen Bootsanhänger leihen könne. Dann fuhr er das Boot bis an eine Stelle, von der aus er über mehrere Kanäle bis zu jenem Rheinarm gelangte, an dem die Brombeerhöhle lag.Andreas hatte ihm verraten, an welchem Punkt er das Boot zu Wasser lassen konnte. Er hatte ihm sogar eine kleine Karte gezeichnet und darin markiert, auf welchen Wasserwegen Benno zum Versteck gelangen konnte. An einer Stelle musste er das Boot jedoch tragen. Andreas kam dafür extra in den Wald und half ihm.
    Sein Boot vertäute Benno an einer Trauerweide. Am Nachmittag ruderte er damit auf dem Wasser oder legte sich hinein und schlief. Es waren die letzten milden Tage. Noch einmal leuchteten die Blätter der Weiden und Pappeln tiefgelb, und die Altweiberfäden glitzerten in der Luft.
    Er legte mir an einem Abend einen Packen von 180 Seiten vor die Haustür. Dass ich um diese Zeit entweder im Krankenhaus, in der Schlafschule oder bei Heidrun sein würde, wusste er. Mir war nicht ganz klar gewesen, wie die Doktorarbeiten von Historikern aussahen, sicher nicht viel anders als medizingeschichtliche Dissertationen. Ich war überrascht und erleichtert, als ich sie überflog. Wahrscheinlich hatte ich Inkohärenz und fiebrige Fantasien erwartet, doch die Arbeit entsprach formal ganz den akademischen Konventionen. Als ich jedoch das letzte der fünf Kapitel las, war ich erst verwirrt, dann fassungslos:
    Er schrieb darüber, dass Hugo Schwindt die Ettlinger Füsiliere nicht im Rahmen ihrer Unteroffiziersausbildung trainierte, sondern nur diejenigen, die sich nach der Schule freiwillig für die Kolonien gemeldet hatten. Damit, so Benno, stand diese Ausbildung nicht mehr in direktem Kontakt zur Schule, was wiederum erklärte, weshalb Hugos Name in der Akte zur Schule nirgends auftauchte und er auf keiner Gehaltsliste zu finden war. Sein Name müsse auf einer Berliner Gehaltsliste zu finden sein, schrieb Benno, doch das könne erst im Rahmen einer weiterführenden Arbeit zu diesem Thema untersucht werden.

    Über das »Ausbildungslager« selbst schrieb er nicht viel. Eine »Steinmauer« erwähnte er, eine »Stätte, vom Wald schon fast zurückerobert«. Doch es habe immer nur eine überschaubare Anzahl junger Soldaten dort im Wald gelebt. »Sie ernährten sich von Vogeleiern und Reihern, Tauben und anderen Vögeln, die sie schossen. Es war bisweilen auch ein Reh dabei. Sie aßen Brombeeren, bekamen Durchfall, fingen Fische und machten lange Flussfahrten mit dem Ruderboot, um die Umgebung zu erkunden. Dabei mussten sie öfter ihre Boote bei großer Hitze über das Festland tragen, Stechmücken und Bremsen ließen

Weitere Kostenlose Bücher