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Vom Schlafen und Verschwinden

Vom Schlafen und Verschwinden

Titel: Vom Schlafen und Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hagena
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jenen Aureolen, die die Maler von Altarbildern den Heiligen wie Taucherglocken über die Köpfe stülpen. Eine Blase, die ihren Träger von allem trennt. Und was kann seinerseits der arme Heilige durch seinen Glorienschein anderes sehen als eine rettungslos verzerrte Welt?
    Warum bleibe ich nicht in meinem Versteck? Unter meiner Glocke, meiner Taucherglocke, Totenglocke?
    Warum jetzt? Oder habe ich genau darauf die ganze Zeit gewartet?
    Es liegt am Chor. Es sind die Blicke, die im Raum hin- und herfliegen, die flatternden Augenlider, wortlose Augen-Lieder. Es sind die Untertöne, Obertöne, Zwischentöne, Stimmungsschwankungen. Es ist das beunruhigende Schlaflied, das wir singen. Über die Rebellen, die in meiner Brust wohnen, über Tränen, die meinen Lebensatem zum Erliegen bringen, über Schreie und Risse und über das Absterben der Seele bei lebendigem Leib.
    Und da ist das Kind, das sich mit dem Tod verbündet. Das Kind der schwarzgesichtigen Nacht. Nacht ist ein raues Wort, es wird im Rachen gebildet wie Rache. Meine Sprache ist härter als die verführerische Dur-Tonart, in der wir singen.
    Ellen war Lutz’ Ferienschwarm, und jetzt umschwärmt sie den nächsten und den nun auch nicht mehr, denn es ist kühler geworden im Wald. Der ganze Chor ist ein Schwarm, Joachim, Orla, Ellen, Benno, selbst Andreas klebt an ihr, seine Augen hängen an ihren Lippen. Ich sehe es, ich sehe es mit geschlossenen Augen. Komm, schwerer Schlaf, schließ mir die müden, weinenden Augen.
    Komm, Bild des wahrhaftigen Todes.
    Komm, Schatten meines Endes.
    Komm, Umriss der Ruhe.
    Komm niemals mehr.
    Bild, Schatten, Umriss. Es wird dunkler. Bald kann ich nichts mehr erkennen. Ich muss fort.
    Auf der Netzhaut in den Augen mancher Zugvögel befindet sich ein Magnetsinn. Ludwig hat darüber gesprochen, aber erst später, als er schon bei mir zu Hause auf seinem mobilen Sterbebett lag.
    Wenn Licht auf die Netzhaut und die dort angesiedelten Cryptochromen gelangt, zerfallen sie, bilden ein Radikalenpaar, welches beim Absterben in einer bestimmten Stellung zueinander verharrt. Die Stellung der beiden Radikale richtet sich nach den Magnetfeldlinien der Erde.
    Nur weil etwas in ihm stirbt, immer und immer wieder, weiß der Vogel, wo er sich in der Welt befindet. Bloß die Augen darf er nicht schließen.
    Ein Cryptochrom. Eine verborgene Farbe wie das Blau im Gefieder des Reihers.
    Und ein Radikalenpaar.
    Es war nur eine Frage der Zeit, bis Benno und Ellen das Versteck finden würden. Es gab schließlich kaum ein Stück halbwegs trockenen Geländes in den Rheinwäldern, auf dem sie sich nicht lustvoll herumgewälzt hätten. Nirgends war man vor ihnen sicher. Einmal stieß ich im Wald auf Andreas und beobachtete, wie er ihnen zusah. Als er mich bemerkte, schien er gar nicht verlegen. Er kam mir entgegen, zeigte mit dem Daumen auf die Bäume hinter sich und hob müde die Augenbrauen. Ich schüttelte den Kopf und zeigte ihm meine Missbilligung. Wir gingen zusammen bis zur nächsten Abzweigung. Er wartete höflich, wohin ich gehen würde, um dann den anderen Weg zu nehmen.
    Andreas hat die Kiste mit den alten Notizen dort hineingestellt. Erst hat er die Kiste hingetragen, später die Blätter im Rucksack in den Wald gebracht. Ich glaube, er hat sie vom Dachboden der Seiths. Frau Seith, ihr Mann ist der Hausmeister vom Rathaus, hat gesagt, Andreas sei ganz wild nach den alten Papieren vom Speicher gewesen.
    »Meine Großmutter war die Geliebte vom verrückten Füsilier«, hat sie auch gesagt. Das glaubt man ihr sofort, dass sie die Nachfahrin eines Verrückten ist oder zumindest von der Geliebten eines Verrückten. Andreas hat offenbar gewusst, dass der verrückte Füsilier Bennos Soldat Hugo Schwindt gewesen ist. Aber Andreas kennt sich aus mit diesen Dingen, immer sehe ich ihn mit Zetteln und Notizen, sogar bei den Chorproben. Er schaut mir beim Schreiben zu, versucht einen Blick über meine Schulter in die Kladde zu werfen. Ich lasse ihn nicht. Seine Blicke perlen an mir ab wie das Wasser an den Puderfedern des Graureihers.
    Warum Andreas die Papiere dorthin gelegt hat, weiß ich nicht. Aber ich sehe, wie er Ellen ansieht. Er wird seine Gründe haben und seine Pläne. Wir haben alle unsere Pläne. Und unsere Gründe.
    Neulich war Benno dort, er kroch ins Versteck, er sah mich nicht, und da stieß ich mit dem Fuß die Bretter weg, die die dornigen Ranken über dem Einstieg zur Seite stemmten. Raschelnd schlugen die schweren Zweige zurück,

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