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Vom Wahn zur Tat

Vom Wahn zur Tat

Titel: Vom Wahn zur Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stompe
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darstellte.
    Neben der Bedeutung der Psychopathie als „moral insanity“ entwickelte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine davon abweichende Verwendungsform, die nach dem Zweiten Weltkrieg das alte Konzept weitgehend zurückdrängte. Vor allem Kurt Schneider, aber auch Karl Leonhard verwendeten Psychopathie als Indikator für den Schweregrad einer abnormen Persönlichkeit.
    Seit etwa zwanzig Jahren erlebt die ursprüngliche Fassung des Terminus in den USA und Kanada eine Renaissance. Aufbauend auf Hervey Cleckleys Monographie
The Mask of Sanity
(1941) und eigenen umfangreichen Forschungsarbeiten, entwickelte Robert Hare 1985 die Psychopathy-Checklist (PCL), die bald zu einem wichtigen Instrument für die Forschung und im Speziellen für die Rückfallprognose wurde. Die mittlerweile revidierte Fassung der PCL, die PCL-R, umfasst 20 Persönlichkeitsmerkmale bzw. Verhaltensauffälligkeiten (siehe Kasten auf S. 127). Seit Mitte der 1990er-Jahre wurde Hares Konzept der Psychopathie auch von der Europäischen Forensischen Psychiatrie übernommen. Während Psychopathie mittlerweile ein zentraler Begriff der Forensischen Psychiatrie ist, wurde diese Entwicklung von der übrigen Psychiatrie bislang kaum wahrgenommen.
    In der amerikanischen Diktion spricht man von einer Psychopathie bei Menschen, die einen Summenscore in der Psychopathy-Checklist von über 30 Punkten erreichen. Europäische Studien ergaben einen niedrigeren Wert (25 Punkte). Nach den ursprünglichen Arbeiten von Hare konnten zwei Faktoren bestimmt werden, die regelmäßig in unterschiedlichem Ausmaß bei diesen Menschen zu finden sind.
    Faktor eins beschreibt den selbstsüchtigen, gewissenlosen „Gebrauch“ von Mitmenschen. Testpersonen, die in diesem Faktor hoch lagen, sind zumeist redegewandt, allerdings ohne inhaltlichen Tiefgang, verfügen über einen oberflächlichen Charme, ein übersteigertes Selbstwertgefühl ohne faktische Grundlage, sie lügen gewohnheitsmäßig, ohne Schuld- oder Schamgefühle zu zeigen, wenn sie dabei ertappt werden. Sie sind betrügerisch und in hohem Maße manipulativ; ohne jegliches Schuldbewusstsein oder schlechtes Gewissen haben sie nur die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse im Sinn. Normale Gefühlsregungen sind ihnen zumeist vollkommen fremd, sie zeigen für gewöhnlich einen Mangel an Einfühlungsvermögen. Die Verantwortung für ihre Taten lasten sie ihrer Umgebung, dem Opfer oder der Gesellschaft an. Die Merkmale von Faktor zwei umfassen überwiegend antisoziale Verhaltensweisen und Einstellungen wie impulshaftes Handeln, unbeherrschtes Verhalten oder Verantwortungslosigkeit. Psychopathie ist eine stabile Kombination aus narzisstischen, dissozialen und histrionischen, also egozentrisch-theatralischen Persönlichkeitszügen. Antisoziale bzw. dissoziale Persönlichkeitsstörungen sind nicht mit der Psychopathie nach Hare gleichzusetzen. Während sich bei beiden Gruppen delinquente Verhaltensweisen finden, zeigen ausschließlich Psychopathen die unter Faktor eins subsumierten affektiven Auffälligkeiten. Hare nimmt an, dass rund ein Prozent der Gesamtbevölkerung und 15 bis 25 Prozent der Insassen von Gefängnissen als Psychopathen zu bezeichnen sind. Werte für österreichische Gefängnisse liegen bislang nicht vor. Bei Maßnahmenpatienten gemäß § 21/1 Strafgesetzbuch (StGB) beträgt der Anteil an Psychopathie 19 Prozent, wesentlich höher hingegen mit 39,4 Prozent ist die Zahl der Psychopathen bei der hochselektierten Population von Maßnahmenpatienten gemäß § 21/2 StGB. Während in Studien über die Entwicklung antisozialer Persönlichkeitsstörungen ein verhältnismäßig hoher Anteil umweltbedingter Einflüsse gefunden wurde (etwa 65 Prozent der Gesamtvarianz), wird Psychopathie im Wesentlichen genetisch weitergegeben. In Zwillingsstudien betrug der genetische Anteil 81 Prozent, während die restlichen 19 Prozent auf die außerfamiliäre Umwelt zurückzuführen waren. Spätere Psychopathen werden zumeist bereits als Kinder durch Empathiemangel, durch die Unfähigkeit, auf Erziehungsmaßnahmen adäquat zu reagieren, und durch asoziales Verhalten auffällig. Häufig findet sich ein Zusammenhang von Psychopathie und Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD). Impulsive und dissoziale Verhaltensmuster bei Psychopathie ergeben sich aus einer andauernden Suche nach Stimulation, um eine kortikale Unterstimulation zu kompensieren. Diese geht mit einer niedrigen Sympatikusaktivität des

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