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Vom Wahn zur Tat

Vom Wahn zur Tat

Titel: Vom Wahn zur Tat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stompe
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heftigen Schmerzen im Unterleib gekommen. Auch beim zweiten Delikt, der Geiselnahme, hatte er massive Prostatabeschwerden gehabt. Er wird von der hypochondrischen Idee beherrscht, seine Prostata gleiche einem Feuerball. Die Körpermissempfindung ist ins Wahnhafte gesteigert, dabei ist er klagsam und stellt sich gerne Mitleid suchend in den Mittelpunkt. Er ist in seinem Verhaltensmuster kein typischer Gewalttäter, sondern jemand, der versucht, um ein Hindernis, das sich vor ihm aufbaut, möglichst bequem herumzukommen. Im Gutachten heißt es zu seiner Straffälligkeit: „Bei Manfred A. besteht eine polytrope Delinquenz, das erste Gewaltdelikt, eine leichte Körperverletzung, verübte er im Alter von 29 Jahren. [...] Wenn man allerdings den Krankheitsverlauf betrachtet, so kann man feststellen, dass es in den letzten Jahren zu einem zunehmenden Abbau gekommen ist und Herr A. mittlerweile das Bild eines organisch getönten schizophrenen Residualzustandes mit Affektverflachung und Antriebsverarmung zeigt.“
    Manfred A. treibt durchs Leben, bis er auf Hindernisse stößt. Dann ist jedoch mitunter Vorsicht geboten. Auch bei ihm findet sich ein Mutterkonflikt, der hypochondrische Wahn spielt jedoch als Motor der Gewalttätigkeit eine größere Rolle. Der affektive Abbau im Rahmen des schizophrenen Prozesses ergab ein Bild, das als „Pseudopsychopathie“ bezeichnet werden kann. Hier findet man einige Merkmale, wie einen Mangel an Empathie, die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, eine parasitäre Lebensweise oder die Unfähigkeit, längerfristig planvoll vorzugehen. Gleichzeitig hat A. aufgrund der Antriebsverarmung erhebliche Schwierigkeiten, seinen Alltag zu organisieren. So vernachlässigt er die Körperpflege und ist in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Die Langzeitstation ist für ihn ein Schutz, sonst wäre er vielleicht schon tatsächlich an einer realen Krankheit gestorben.

Exkurs:
Das Konzept der Psychopathie
    Die Terminologie der psychiatrischen Wissenschaften unterliegt einem ständigen Wandlungsprozess. Die geschichtliche Aufarbeitung der psychiatrischen Klassifikationsbemühungen zeigt, dass immer wieder ursprünglich zentrale psychiatrische Konzepte wie etwa die Hysterie an Bedeutung verlieren, um schließlich von der offiziellen Fachwelt aufgegeben zu werden. Danach fristen sie im klinischen Alltag häufig ein Schattendasein als unreflektierte Zuschreibungen. Ähnliches widerfuhr dem Terminus „Psychopathie“, der für Jahrzehnte aus dem wissenschaftlichen und klinischen Sprachgebrauch verschwunden war. In den letzten Jahren nahm er allerdings in der Forensischen Psychiatrie wieder einen bedeutsamen Stellenwert ein. Psychopathie kann im Zusammenhang mit unserem Thema eine Persönlichkeitsvariante beschreiben, die einen Schizophrenen gefährlich machen kann. Eine psychopathische Persönlichkeit kann bei Straffälligkeit genauso eine Rolle spielen wie Substanzmissbrauch, gerade bei jenen Patienten, die zahlreiche Delikte gesetzt haben – hier oft leichtere.
    Psychopathie wird heute in einer Bewertungsskala (PCL-R-Scale) gemessen, die von 0 bis 40 reicht. Es hat sich gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen der Gesamtzahl der Delikte und diesem Psychopathie-Score besteht. Es ist allerdings zu beachten, dass Schizophrene, die in der Psychopathie-Skala hoch lagen – anders als gesunde Straftäter –, zwar zahlreiche, dafür aber verhältnismäßig leichte Delikte begangen haben.
Geschichte eines Begriffs
    Philippe Pinel (1745–1826) setzte sich als einer der Ersten intensiv mit dem Erscheinungsbild und Verhalten von Psychopathen auseinander. Er verwendete den Terminus „Wahnsinn ohne Delirium“, um ein Verhaltensmuster zu beschreiben, das durch völlige Gewissenlosigkeit und Hemmungslosigkeit geprägt war und sich von „gewöhnlichen“ Verbrechern deutlich unterschied. Benedict Morel (1809–1873) und Valentin Magnan (1835–1912) integrierten dieses Verhaltensmuster in die Degenerationstheorie, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eines der einflussreichsten Konzepte der Entstehung psychischer Erkrankungen bleiben sollte. Durch Heinrich Schüle (1840–1916) fand die Degenerationstheorie weite Verbreitung in Deutschland. Richard von Krafft-Ebing (1840–1902), bekannt durch sein Buch
Psychopathia Sexualis
, etablierte die Degenerationstheorie in Österreich, wo sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein zentrales Erklärungsmodell für die Existenz psychopathischer Menschen

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