Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
später kommt der Wirt, und wir erfahren, dass es hier im Ort keine Übernachtungsmöglichkeiten mehr gibt, die Gasthöfe haben diesbezüglich den Betrieb eingestellt. Das ist der absolute Schock für uns, denn wir sind völlig platt und ausgepowert. Da geht nichts mehr. Auch der Versuch, per Telefon in Privatpensionen etwas zu finden, scheitert. Entweder ist die Oma oder die Tante zu Besuch, oder es ist niemand zu Hause. Wir nehmen erst mal ein Bier, atmen einmal ein, und das Glas ist leer. Ein junges Mädel kommt durch die Gartenpforte und verschwindet im Gasthaus. Dann passiert eine Weile gar nichts.
Ich muss auf Toilette und schlurfe durch die menschenleere Gaststube zum Pissoir, jeder Schritt fällt mir schwer.
Im Spiegel schaut mich ein alter Mann an: dicke Klüsen mit geschwollenen Tränensäcken, rotfleckiges Gesicht, die schütteren Haare verklebt, ein grauer Stoppelbart und ein dicker Zinken, der aus einem schmalen, zerfurchten Gesicht wie eine viel zu große Gaube hervorragt. Aber um seine Lippen spielt ein Lächeln, und aus den tiefliegenden Augen blitzt Stolz. Ich könnte mir jetzt die Kante geben und einfach diese beiden verrückten Tage begießen, wenn nur die Unterkunft klar wäre.
Bei Martin stehen der Wirt und die junge Frau. Sie unterhalten sich.
„Wolfgang, alles klar, wir haben eine Übernachtung im nächsten Ort“, ruft er mir zu.
„Na wunderbar, und da wollen wir jetzt hinlaufen, oder willst du mich tragen?!“
„Nein, die fährt uns hin“, und zeigt auf die junge Frau. „Dort wartet man bereits auf uns!“
Das ist ja eine wunderbare Fügung, besser geht’s nicht. Die Hilfsbereitschaft der Menschen ist echt enorm, ob Preuße oder Bayer, da gibt es keinen Unterschied.
Wir fahren nach Alfershausen zu einem Landgasthof, der heute eigentlich seinen Ruhetag hat. Die Zimmer sind super, alles neu, alles tipptopp. Gestern noch auf dem Waldboden geschlafen und heute in einem Drei-Sterne-Hotel.
Freude schöner Götterfunken,
Tochter von der Alb,
Statt zu darben unter Fichten,
Trink’ ich lieber Bier beim Dichten,
Hier, nur hier und nicht im Wald!
Wie ein Engel hast du uns gewunken,
Heil dir, Holde, bald sind wir betrunken!
Na ja, lassen wir Schiller die drei Punkte.
Wir bestellen zwei Maß Bier, Spargel mit Schnitzel und Bratkartoffeln – die Oma kocht. Der milde Sommerabend neigt sich, und die Nacht zieht auf. Die nächste Maß bringt der Seniorchef persönlich an unseren Tisch im Biergarten und setzt sich zu uns. Wenig später gesellt sich sein Sohn dazu, und wir trinken und reden bis Mitternacht: über unsere Wanderung, ihr Leben, über Politik und was sie so alles falsch macht. Die Stunden fliegen dahin und mit ihnen unser Verstand, aber wir bewahren die Contenance, und der Abend endet freundschaftlich. Gutgelaunt und herrlich betrunken wanken wir auf unsere Zimmer.
So intensiv waren diese beiden Tage, eine Achterbahn der Gefühle, gefüllt mit Leben und nochmals Leben. Man muss loslassen können und die Ereignisse mit sich versöhnen, um bereit zu sein für die vielen, kleinen, schönen Momente, die man sonst übersieht. Nur wer gute Gedanken mit sich trägt, ist glücklich und frei. Mir gelingt das lange nicht immer, doch diese Wanderung lehrt mich einiges. Wenn du den Blick nur auf deinen Weg heftest und nicht nach links und rechts und immer wieder auch nach vorne und hinter dich schaust, dann weißt du nicht, wo du bist, wo du stehst und wer du bist.
All das denke ich – zufrieden mit mir und der Welt, während ich in meinem wunderbaren Bett liege und Stefan Raab in der Glotze blödelt und dabei am lautesten über seine Pointen lacht. Lass mal stecken, Stefan, ich muss mich ausruhen. Gute Nacht!
Z U KALT GETRUNKEN
DIENSTAG, 27. MAI
ALFERSHAUSEN – WEISSENBURG
MITTELFRANKEN, SÜDL. NÜRNBERG), 27 KM
Das Erste, was ich spüre, als ich erwache, ist ein gewaltiges Kopfklickern, und als ich die Augen öffne, verursacht das gleißende Licht, das durch das geöffnete Fenster mein Zimmer flutet, hinter meinen Augen einen stechenden Schmerz. Sofort kneife ich sie fest zusammen, verziehe das Gesicht, beiße die Zähne zusammen und stöhne auf. War wohl ein Gläschen zu viel gestern Abend, aber es hat Spaß gemacht.
Ausnahmsweise dusche ich heute Morgen und lasse zum Schluss so lange kaltes Wasser auf den Schädel rauschen, bis der Kälteschmerz das Kopfweh überlagert. Dann noch eine Pille, und es geht mir schon viel besser.
Martin sitzt bereits quietschvergnügt mit all
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