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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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wieder ein Wirtschaftsgebäude, ab und zu ein Traktorgeräusch. Der Himmel ist von lichtem Grau und die Sonne ein verwaschener Fleck, deren fahles Licht wie Blei auf der Landschaft lastet. Es ist schwül in dieser Zwischenwelt, und es ist einsam.
    Überall in Deutschland gibt es diese Landschaften, und niemand könnte spontan sagen, wenn er es nicht wüsste, wo er sich befindet, ob in Nord-, Süd-, West- oder Ostdeutschland.
    Die Monotonie drückt aufs Gemüt. Verflogen ist die euphorische Stimmung von heute Morgen. Wir laufen, weil wir nicht anhalten wollen und uns nichts anderes übrig bleibt.
    Am frühen Nachmittag machen wir einen Abstecher in den winzigen Flecken Stierbaum, um eine Kneipe zu suchen – nicht um uns vor Frust zu besaufen, sondern um Mittag zu essen. Mag die Gegend auch noch so öde sein oder gerade deswegen, hier gibt es eine! Aber die Auswahl ist beschränkt und typisch: Leberknödelsuppe und fränkische Bratwurst. Beides schmeckt mir nicht, und beides hatten wir schon zu oft. Aber auch diesmal zwänge ich mir widerwillig die Knödel rein, während sich Martin hingebungsvoll den verkohlten Würsten mit Sauerkraut widmet. Na denn, guten Appetit!
    Der Nachmittag zieht sich und unser Weg auch.
    Dann reißt der Himmel auf, und es wird wieder sommerlich warm. Auch die Landschaft ändert sich: Wir blicken in ein Tal, umsäumt von sanften, bewaldeten Hügelketten. Ein kleiner Ort liegt im Talgrund, mitten zwischen saftigen Wiesen und Feldern, auf denen die Saat aufgegangen ist und junges Grün keimt. Der mittlerweile blaue Himmel wölbt sich hoch, und die Sonne brennt mit voller Kraft hernieder.
    Wir wandern in Obermässing ein. Spatzen schilpen, irgendwo gurren Tauben, ein leichter Wind fächelt in den Kastanien. Es ist Sommer auf der Alb, ein schläfriger Spätnachmittag. Auf einer schattigen Bank nehmen wir Platz, entledigen uns der Schuhe und dösen.
    Es gibt mal wieder keine Möglichkeit, um sich für den Abend zu versorgen. Wir müssen weiter bis nach Thalmässing, wo wir hoffentlich übernachten können, noch etwa zehn bis elf Kilometer. Es ist jetzt fünf Uhr, vor halb acht werden wir dort nicht einlaufen. Es wird spät heute werden und anstrengend.
    Wir überqueren die A9 und die parallel verlaufende Trasse für den ICE-Verkehr. Dann packt uns der Wahnsinn. Wie von der Tarantel gestochen preschen wir los. Schießen einen Hügel hinauf und wieder hinunter, fräsen durch Wald und Feld und fegen wie Gamashman über die von den modernen Dinosauriern verwüsteten Wege. Die Temperatur liegt bei 30 Grad, und wir haben das Stadium der Ekstase erreicht. Es ist, als ob uns der Heilige Geist geküsst hätte und wir wie Engel dahinfliegen. Ich wandere vor Martin und gebe den Takt vor. Die Beine stampfen wie Kolben auf und ab, die Stöcker schwingen wie Ruder, der Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt, der Blick starr auf den Weg geheftet. Es fehlt nur noch, dass sich Schaum vorm Mund bildet und Dampf aus Ohrenund Nasenlöchern dringt – schweißgebadet sind wir allemal.
    Läufer müssen dieses euphorische Gefühl kennen, wenn die Trägheit überwunden ist und der Körper nahezu schwerelos über die Strecke prescht und eine unerschöpfliche Energie einen vorantreibt.
    Wenn ich bedenke, dass ich gestern Vormittag an den Abbruch der Tour gedacht habe, ist dieser Energieausbruch nahezu ein Wunder. Schon die Stimmung heute Morgen war bemerkenswert, der absolute Gegenpol zu meiner Gemütsverfassung am Tag zuvor. Wie Quantensprünge vollziehen sich diese spontanen Veränderungen der psychischen und physischen Verfassung, ohne ein Zwischenstadium, ohne Ankündigung und mit unglaublicher Intensität. Auf Dauer aber machen einen diese enormen, abrupten Schwankungen kirre. Insofern ist eine Wanderung auch eine Ausnahmesituation, die man nicht endlos ausdehnen kann. Man braucht immer wieder einen Ort, der einen zur Ruhe kommen lässt.
    Gut sechs Kilometer laufen wir in diesem Tempo und benötigen weniger als eine Stunde, stehen um kurz vor sieben am Hang oberhalb von Thalmässing. Ein schnurgerader, schmaler Pfad führt durch Gärten und Obstwiesen hinunter zum Bach und über einen Steg in die Ortsmitte. Völlig erschöpft, aber glücklich lassen wir uns im Garten des Gerberwirts nieder und atmen erst mal durch. 36 Kilometer Strecke haben wir gemacht und zum Schluss einen Gewaltmarsch bei 30 Grad im Schatten mit zwölf Kilo Gepäck auf dem Rücken absolviert – mein lieber Mann, was mute ich mir zu.
    Wenig

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