Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
des Beines. Verstohlen schauen die Passanten in der Fußgängerzone auf mein lädiertes Bein, und ich spüre, wie sie hinter meinem Rücken diesem angeschlagenen, humpelnden Wanderer nachschauen. Ich selber fühle mich wie ein alter Mann, der Freigang vom Rollator hat. Die Bandage sitzt ziemlich stramm, aber sie lindert den Schmerz und stabilisiert den Gang. In einem weiteren Geschäft erwerbe ich noch einen Gürtel. Meiner ist mir unterwegs kaputt gegangen, und den von meinem Vater geliehenen kann ich mir bald zweimal um den Bauch wickeln. So ausgestattet, verlasse ich mit meinem Wanderbruder Bad Lauterberg und den Harz erst am späten Morgen. Mörderische 30 Kilometer liegen vor mir.
Entlang einer Straße bewegen wir uns auf eine Anhöhe zu. Ich beiße die Zähne zusammen und ignoriere das Ziehen in der angeschlagenen Sehne. Quälend langsam geht es voran. Nach gut einer Stunde haben wir die Anhöhe abseits der Straße erreicht. Mir geht es tatsächlich besser. Ich habe anscheinend den toten Punkt überwunden und den Schmerz weggetreten.
„Was man so alles bewirken kann, wenn man nur will“, denke ich.
Gedacht habe ich das immer schon mal, aber noch nie mit so viel Schmerzen praktiziert. Ich will unter allen Umständen am Alpenrand ankommen, und wenn ich es auf allen Vieren tue. Viele in meiner Heimatstadt wissen von dem Projekt, und ich will mir auf keinen Fall die Blöße geben, als Abbrecher heimzukehren. Da ist er wieder, der männliche Stolz – aber er ist eben auch eine Triebkraft, und die habe ich jetzt nötig. Vielleicht braucht man solch einen bedingungslosen Vorsatz und eben diesen Stolz, um seinen inneren Schweinehund zu überwinden, die Leistungsgrenze hinauszuschieben und die Leidensfähigkeit zu erhöhen.
Hinter uns liegt der Harz. Hier an seinem Südrand bildet er einen sanften, lichtgrün gefärbten Höhenzug, der erst auf seinen Kämmen das typische dunkle Kleid der Fichten und Tannen preisgibt. In der klaren Luft schwimmen zwischen dem Blau des Himmels und dem grüngelben Frühlingskleid der Erde abertausende kleine, weiße Wolken. Am Fuße der Berge grüßen die signalroten Dächer der eben von uns verlassenen Stadt. Wir wandern in das liebliche, nördliche Eichsfeld hinein – durchzogen von vielen kleinen bewaldeten Hügeln, bedeckt von leuchtenden Raps- und zartgrünen Kornfeldern. Blühende Vogelbeerbäume, Weißdorn- und Schneeballhecken heben sich mit ihrem weißen Glanz von den Feldern ab, liegen wie Schaumflocken an den Rändern der Wäldchen. Hin und wieder ragen aus den sanften Mulden der Täler Kirchtürme und Giebel kleiner Dörfer hervor. Der rotbraune Sandweg vor uns verliert sich hinter einer Kurve in einer Senkung. Man wähnt sich in einer anderen Zeit, der Zeit von Caspar David Friedrich, der frühen Romantik des 19. Jahrhunderts. Seit Generationen gibt es diese Kulturlandschaften, ein Gemisch aus Landwirtschaft und ursprünglicher Natur. Sie wirken so innig, so vertraut, nur lebensfähig abseits der großen Städte, des Verkehrs und des Lärms.
Nicht weit, vielleicht 30 Kilometer Luftlinie westlich, liegt Göttingen. In den siebziger Jahren habe ich dort studiert und nach dem Examen in einer Wohngemeinschaft auf dem Lande in der Nähe der Stadt gelebt. Die Landschaft dort ist dieser sehr ähnlich. Mit meiner jungen, süßen Freundin – jetzt meine Frau – bin ich dort bald jeden Tag spazieren gegangen – einen Weg um einen langgestreckten, niedrigen Höhenzug, mal oben am Waldrand mit Blick ins Tal, mal in einer Senke durch Felder führend. Wir haben diese Strecke geliebt und verinnerlicht. Vielleicht berührt mich die Landschaft hier deswegen so sehr.
Eines meiner schönsten Jahre habe ich in jener Wohngemeinschaft verbracht. Lebte mit meiner Freundin und einem weiteren Pärchen in einem Haus mit einem großen Garten am Fuße eines bewaldeten Hügels. Wir waren so jung und unbeschwert, hatten unsere Jobs, aber der Schwerpunkt des Lebens war unsere WG. Jeden Abend saßen wir beisammen und haben geplaudert, getrunken oder auch mal einen Joint selbstgezogenen Grases geraucht. So entstanden Pläne für einen Gemüsegarten und für eine andere, nicht bürgerliche, von Zwängen freie Zukunft. Die junge Liebe zu meiner Frau, das herzliche, unverbrauchte Verhältnis zu den beiden Mitbewohnern, meine Liebe zur Natur und die intensive Beschäftigung mit Musik und Literatur haben für eine kurze Zeit ein Paradies auf Erden entstehen lassen. Wir genügten uns, und keiner hatte
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