Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
den Verdacht, dass alles nicht so bliebe. Es gab keinen Horizont, alt wurde eine andere Generation, und der Tod war eine Schimäre.
Erst seit wenigen Jahren begreife ich, wie vergänglich alles ist und dass nichts auf der Welt den ewigen Prozess des Werdens und Vergehens aufhalten kann. Das gilt für unseren Körper, unsere Seele, für Freundschaften, Beziehungen, für alles in der Welt.
Als Kind sind wir eins mit der Welt. Wir sind in ihr und sie in uns. Das ändert sich. In uns wird etwas geboren, das uns vereinzelt und individualisiert: unsere Identität. Und dabei entfernen wir uns von der Welt, mit der wir einst ein Ganzes bildeten und aus der wir kommen. Für immer bleibt nun eine Distanz zwischen dem, was in uns ist, und dem, was uns umgibt, und oft passt es nicht zueinander, und die Sehnsucht nach Überwindung dieser Kluft treibt uns ein Leben lang um. Doch manchmal gelingt es uns, und wir fühlen uns so wie früher, als wir noch nicht der Welt entwachsen waren.
So hat auch mich eine tiefe Sehnsucht nach den jungen Jahren mit meiner Frau hier oben am Rande des nördlichen Eichsfelds ergriffen –nach der Unbeschwertheit unseres Seins damals, nach der Jugend unserer Seelen.
Mein Verstand funktioniert noch recht gut. Der Körper aber ist erodiert, ebenso wie die Seele. Risse und Falten hat auch sie durch das Geschehen über so viele Jahre erhalten, hier und dort sogar Narben. Sie ist eben auch älter geworden. Wie Türme häufen sich die Erfahrungen und verblassen in den Erinnerungen. Zu Staub geworden, sacken sie auf den Grund der Seele und verändern sie unmerklich.
Manche sagen, sie sei unsterblich. Vielleicht wird sie nach dem Tode Teil des universellen Gedächtnisses unseres Kosmos und manifestiert sich dort als eine immerwährende Struktur.
Wer weiß, wer weiß.
Wir wandern ins Eichsfeld hinein. Ich marschiere runder als am Vormittag. Freundlich nickt uns der Tag zu und zieht uns sanft mit sich. Gegen Mittag gelangen wir an die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Genau zwischen den beiden betonierten Panzerstreifen steht eine Bank, auf der wir uns niederlassen. Wir haben Thüringen erreicht. Ein Schluck aus dem Wasserschlauch im Rucksack und ein Powerriegel bilden die Zwischenmahlzeit. Vögel zwitschern, Insekten schwirren um uns herum, fernab das Brummen eines Traktors. Der Panzerstreifen verliert sich links und rechts im Gestrüpp des Waldes. Bald wird er nicht mehr existieren, so, wie auch die Erinnerung an die DDR in den Köpfen der Menschen verblasst und sich im Verlauf der Generationen verflüchtigt.
Martin und ich haben uns lieb heute, wir reden viel und innig. Mit seinem hellen Tenor stimmt er hin und wieder Takte des einen oder anderen Liedes an. Mich lenkt das alles wunderbar von meinem müden Körper ab. Allmählich werden wir hungrig und durstig. Unser Wasser geht zur Neige, wir brauchen jetzt Input. Erst nach zweieinhalb Stunden, gegen drei Uhr, taucht der nächste Ort auf. Wir fragen nach Gasthäusern, doch es gibt nur eines, das geschlossen hat. Aber ein Edeka-Markt hat geöffnet. Wir packen unsere Rucksäcke in zwei Einkaufswagen und schieben in unserer verschwitzten Wandermontur an den Regalen entlang – bestimmt ein seltener Anblick. Wir brauchen eine Mahlzeit für die dringend angesagte Mittagspause und Verpflegung für das Nachtlager – einen weiteren Lebensmittelladen wird’s nicht geben, wir werden nur noch einen kleines Dorf durchlaufen, bevor wir zu später Stunde den Flecken mit dem bezeichnenden Namen Wintzigerode erreichen werden, um uns dort irgendwo in die Büsche zu schlagen.
Bananen, Äpfel, Wurst, Käse, Wasser und zwei 0,5-Liter-Flaschen Wein verschwinden im Einkaufswagen. An der Bäckertheke belegt uns die Verkäuferin die Brötchen, allerdings ohne Butter. Gegenüber dem Edeka-Laden, auf der anderen Seite der Hauptstraße, entdecken wir eine niedrige Mauer, auf die wir mit unseren Einkaufswagen zu steuern. Es ist jetzt nicht die Zeit, um ein lauschiges Plätzchen für die Rast zu suchen, viel zu mühsam wäre das Verpacken der Lebensmittel und das Mitschleppen des gesamten Einkaufs. Das Abendbrot müssen wir ohnehin noch einige Kilometer in unseren Rucksäcken transportieren. So schlurfen wir mit unseren Wägelchen auf die andere Straßenseite und setzen uns auf die staubige Mauer, gut einen Meter abseits der Fahrbahn.
Hin und wieder donnern ein Traktor, Bus oder LKW vorbei. Der Lärm drückt uns an die hinter der Mauer aufragende Wand, und die Erschütterung
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