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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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sehnst, ist es unerreichbar. Jetzt, auf diese einfache Art und Weise, ist es bei mir, völlig unerwartet, bedingungslos und nicht beherrschbar.

    Ich wollt’, ich wär ein Vöglein,
So flüchtig wie das Glück,
Dass ich es fangen könnte
Und gäb’ es nie zurück.
    Alle, außer mir, wollen zum Essen in die Stadt. Also duschen, umziehen und los. Ich kann kaum noch laufen. Die verdammten Halbschuhe mit knapp einem halben Zentimeter Sohle übertragen jeden Tritt eins zu eins auf die Knochen. Es tut fürchterlich weh, zusätzlich brennen die Beine, der Rücken schmerzt im Lendenwirbelbereich, und die Verspannung der Schultermuskulatur zieht bis in den Schädel. Der Spaziergang durch die Stadt wird zur Qual. Meine beiden Freunde laufen 100 Meter vorweg, dann Martin und zum Schluss ich.
    Sorgenvoll denke ich an die nächsten Tage. Über 210 Kilometer sind wir in der ersten Woche, die heute zu Ende geht, marschiert – jeden Tag auf der Piste – und haben dabei täglich circa 30 Kilometer zurückgelegt, Hab und Gut auf dem Rücken.
    Habe ich mir zu viel zugemutet? Sind die Wanderstrecken zu lang und ist bereits jetzt ein Tag Pause nötig? Ich muss damit allein fertig werden, denn Martin geht es besser. Seine stärkere Konstitution ist allerdings auch ein Anreiz, die Flinte nicht so schnell ins Korn zu werfen. Er nimmt zwar Rücksicht auf die Folgen meiner körperlichen Probleme, geht langsamer, macht Pausen – es sei denn, es treibt ihn zum Essen –, aber lange mit ihm darüber palavern hat keinen Sinn, weil es ihn ja nicht betrifft.
    Irgendwie ist diese Wanderung wie das Leben. Auf und ab geht es mit dem Weg und mit den Emotionen, Highlights wechseln mit langweiligen, belanglosen Passagen, und Euphorie und Leid liegen dicht beieinander. Ich weiß, dass mir die Neugier und Freude auf das Unbekannte und Neue, das mich jeden Tag erwartet, und der Wille, das Ziel zu erreichen, frische Energie zuführen werden.
    Ich werde nicht aufgeben und erst mal die Nachtruhe zur Regeneration nutzen.

Ü BERNACHTUNG IM F REIEN
    MITTWOCH, 7. MAI
BAD LAUTERBERG – FORSTHAUS SEEGEL (NÖRDL. EICHSFELD), 27 KM
    Wir sitzen zu viert am Frühstückstisch und überlegen, wie wir den vor uns liegenden Tag angehen wollen. Jan ist fürchterlich erkältet, sein Zinken ist rot und die Augen tränen. Schon gestern Abend hat er gehustet und gerotzt, über Nacht ist es nicht besser geworden. Schnell ist klar, dass Martin und ich alleine weitergehen werden, zumal heute die erste Freilandübernachtung ansteht. Jan und Jens wollen sich auf ihre Motorräder schwingen und Richtung Heimat knattern. Möglicherweise ist das für beide Parteien gut so – ich bin angeschlagen, und Martin und ich sind aufeinander eingestellt. Wer weiß, ob nicht Streitereien wegen Tempo, Pausen und Wegstrecken uns die Freude am gemeinsamen Wandern gründlich verdorben hätten.
    Wir frühstücken im Garten zwischen Blumen und Sträuchern bei herrlichem Sonnenschein.
    Gestern Abend habe ich mich mit allem eingeschmiert, was meine Apotheke hergibt: Hirschtalg für die Füße, Mirfulan für die Wunde im Schritt, Latschenkieferessenz für die Beinmuskulatur, eine muskelentspannende, auf der Haut Hitze entwickelnde Salbe für die Schultern. Rückenschmerzen haben mich dennoch während der Nacht um den Schlaf gebracht. Ich entschließe mich deshalb zu einer radikalen Veränderung der bisherigen Art, den Rucksack zu tragen. Ich will nicht glauben, dass ich zu alt für einen Streckenwanderer bin oder mein Bandscheibenschaden in der Lendenwirbelsäule das längere Tragen eines, inklusive Wasser, gut 14 Kilo schweren Rucksacks nicht mehr zulässt. Irgendetwas mache ich falsch. Vielleicht waren es aber auch zu viele Kilometer pro Tag. Also zerre und zurre ich an den Gurten, bis der Rucksack in einem viel größeren Winkel als bisher von den Schultern absteht und erst auf der Wölbung der oberen Pobacken aufsetzt, erheblich tiefer als vorher.
    So marschiere ich los, und zumindest mein Rücken fühlt sich zunächst gut an. Aber ich bin alles andere als entspannt und fühle, dass mir der erste wirklich harte Tag bevorsteht. Schon nach wenigen Metern bestätigt sich diese Ahnung. Die Außensehne in der rechten Kniekehle schmerzt, und ich kann eigentlich gar nicht mehr laufen. War’s das? Ich schleppe mich zur nächsten Apotheke und – weil es dort nichts Rechtes gibt – weiter zu einem Sanitätshaus. Eine fleischfarbene, elastische Binde umschließt schließlich mein rechtes Knie und Teile

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