Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns
ist so heftig, dass wir die Einkaufswagen festhalten müssen, damit sie nicht auf die leicht abschüssige Straße rollen. Ich staune über meine Toleranzgrenze. Wo ist die Natur, wo sind die urigen Gasthäuser, wo ist die Romantik geblieben – habe ich jetzt die erste Stufe der Verwahrlosung erklommen? Jedenfalls zeigt mir die Tolerierung dieses Rastplatzes den Grad meiner Erschöpfung an – mir ist es schlicht egal, wo ich sitze. Hauptsache, ich kann mich ausruhen, essen und trinken. Für einen Fernwanderer gelten andere Regeln: Der Körper und nicht der Geist bestimmt, wann Pausen gemacht werden.
Die Rast tut gut. Ich strecke mich auf der Mauer aus und döse ein wenig. Der Horror packt mich, wenn ich daran denke, dass noch 14 Kilometer vor uns liegen. Es ist bereits vier Uhr. Wir sind spät losgekommen heute Morgen und langsamer als sonst gegangen. Auf geht’s, hinaus aus dem Ort und ab in den nächsten Wald, aber immer schön langsam. Mein Körper befindet sich an der Belastungsgrenze.
Nach eineinhalb Stunden schweigsamen Marsches erreichen wir das nächste Dorf. Es liegt in einer leichten Senke vor uns. Ein von jungen Ahornbäumen gesäumter Wiesenweg führt uns hinab. Still liegt der Flecken und still wandern wir hindurch. Die Kirchturmuhr schlägt sechsmal.
Je später der Tag, desto beschwerlicher das Wandern, zumindest dann, wenn man schon ab dem Vormittag unterwegs ist. Aber so heftig wie jetzt war es bisher noch nicht. Ich bin am Ende – müde, ausgelaugt, kein Auge mehr für die Landschaft, kein Bock auf Gespräche. Es ist echt hart und so fernab jeder Lust, dass mir der Sinn des gesamten Unterfangens abhanden kommt. Ich will und kann einfach nicht mehr, Wintzingerode erscheint mir unerreichbar.
Nach einer Stunde schmeiße ich den Rucksack von mir und sinke erschöpft auf einen Baumstamm, vor uns liegt eine sanft ansteigende, mit Butterblumen übersäte Wiese. Martin, auch nicht mehr der Fitteste, aber alle Mal besser drauf als ich, läuft ein wenig herum und findet einen Wegweiser: Worbis sieben Kilometer. Die Stadt im mittleren Eichsfeld liegt auf unserer Route, und dies wäre eine Abkürzung.
„Wollen wir nicht Schluss machen für heute, Wolfgang? Wir können doch morgen diesen Weg nach Worbis laufen und bekommen dort sicher ein Frühstück.“
Drei Punkte für seinen Vorschlag – nichts lieber als das.
Wie ein Blitz durchzuckt mich ein Energieschub. Schon stehe ich, werfe mir den Rucksack über und bewege mich auf die Wiese zu. Nun ist es so weit. Die erste Übernachtung im Freien steht an, und angesichts der Erschöpfung kostet mich das keine Überwindung mehr. Wie oft habe ich während der Vorbereitung darüber nachgedacht und mir nicht vorstellen können, irgendwann irgendwo in Deutschland ohne Zelt bei Nachttemperaturen unter fünf Grad draußen zu schlafen.
Wir gehen ein Stück aufwärts, bis wir eine ebene, sonnenbeschienene Stelle finden, nicht weit weg vom Waldrand. Etwa 150 Meter entfernt liegt hinter Bäumen versteckt ein Forsthaus. Ein Weg führt am unteren Ende der Wiese dorthin. Der Wald um uns herum bildet eine schweigende Mauer – es ist windstill, ein Kuckuck ruft.
Ich fühle mich nicht verloren, im Gegenteil, irgendwie ist der Raum um mich herum geschrumpft, zu einem Zimmer mit grandioser Aussicht. Richten wir es ein.
Dicht nebeneinander schlagen wir unser Nachtlager auf. Die schmale, 50 Zentimeter breite und zwei Zentimeter dicke Isomatte bläst sich von selbst auf, ebenso das kleine Kopfkissen aus Schaumstoff. Der Daunenschlafsack soll bis null Grad Celsius komfortabel sein. Mal sehen, ob er hält, was er verspricht – die Nacht wird nicht warm. Über die Füße ziehe ich mir frische Wandersocken, eine lange Unterhose wärmt die Beine, ein langärmliges Skiunterhemd den Oberkörper, vorsichtshalber stopfe ich in den Schlafsack noch einen Fleecepullover. Um den Hals trage ich einen dünnen Schlauchschal. Ich kann ihn auch über den Kopf ziehen, wenn es kälter wird.
In meine Wanderschuhe hänge ich die alten Socken und decke als Schutz vor Regen oder Tau meinen Anorak darüber. Neben meine Isomatte lege ich ein Taschenmesser, Ohropax, eine Taschenlampe und einen Pfeffersprayer. Wer weiß, was da nachts so alles über die Wiese hoppelt: Wildschweine, Luchse, Füchse und Räuber. Ich glaube, schon ein raschelnder Frosch neben mir würde mich aus der Fassung bringen. Ich verscheuche die Gedanken und bereite mich auf das Abendbrot vor, nachdem ich alle übrigen Sachen in
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