Von ängstlichen Drachen, halben Mänteln und zahmen Wölfen - die schönsten Heiligenlegenden neu erzählt
füllen. Kaum fielen die Körner in die Schale, schon begannen die beiden Raben wild darin herumzuhacken. „Wenn es euch nicht gäbe, müsste ich euch erfinden“, sagte Meinrad mit einem Lächeln und fuhr einem der beiden sanft über das glänzende Gefieder.
Vor ein paar Jahren hatte er die Raben, als sie noch ganz klein waren, aus ihrem Nest vor dem Sperber gerettet, der drauf und dran war, sie einfach aufzufressen. Meinrad hatte sie aufgezogen, und seitdem waren die beiden seine ständigen Begleiter, wohin er auch ging. Am liebsten saßen sie rechts und links auf seiner Schulter und zogen ihn mit ihren großen Schnäbeln zärtlich am Ohr.
Meinrad ließ die beiden ihr Frühstück verspeisen und ging in die Kapelle, um zur Mutter Gottes zu beten. Nichts tat er lieber und nichts war ihm wichtiger – außer vielleicht dem Schmid, der beim Arbeiten einen Arm verloren hatte und jetzt nicht mehr wusste, wie er seine Familie ernähren sollte. Und natürlich die Wäscherin und ihre Kinder, die ohne Vater aufwachsen und schon von kleinauf ihrer Mutter bei der Arbeit helfen mussten, um zu überleben. Und die alte Johanna, die niemand mehr hatte, der sich um sie kümmerte oder mit ihr sprach. Und dann noch all die anderen, die zu Meinrad kamen, um ihn um Rat zu bitten oder um einen Segen.
Meinrad war in einem Kloster auf der Insel Reichenau im Bodensee groß geworden. Als er alt genug war, wurde er Benediktinermönch. Schon damals wollte er eigentlich nur für Gott leben und sein Leben in der Einsamkeit mit Beten verbringen. Aber immer kamen ihm die Menschen dazwischen! „Ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie alleinzulassen mit ihrem Kummer, ihren Sorgen und Nöten, ihren Krankheiten an Leib und Seele“, sagte Meinrad seinem Abt immer wieder. Und die Menschen merkten, dass sie bei ihm alles fanden, was sie brauchten: ein offenes Ohr, eine tröstende Hand und meistens auch ein Säckchen Getreide oder ein warmes Fell, das über die schlimmste Kälte und den größten Hunger half. „Dann musst du von hier weggehen, Meinrad“,sagte ihm der Abt. „Wenn du allein sein willst und beten, musst du das in der Einsamkeit tun, denn die Menschen werden immer wieder kommen, um in deiner Nähe zu sein.“ Und so packte Meinrad sein Bündel und ging auf den Etzelberg, der oberhalb vom Zürichsee liegt. Der Abt ließ ihn nur sehr ungern gehen. Er mochte Meinrad einfach so gerne und er wusste auch, dass die Menschen ihn sehr vermissen würden.
Am Anfang war Meinrad auf seinem Berg glücklich. Er konnte auf das glitzernde Wasser des Sees schauen und beten und allein sein. Doch schon bald hatte sich herumgesprochen, dass er hier oben seine Hütte gebaut hatte – und nach kurzer Zeit kamen die Menschen wieder in Scharen zu ihm. Also machte er sich wieder auf in die Einsamkeit. Und dieses Mal ging er so tief in den Wald hinein, dass ihn hier sicher niemand finden würde. Und da war er nun mit seinen beiden Raben.
Aber von irgendetwas musste Meinrad ja auch leben. Also machte er sich von seiner Einsiedelei immer wieder zum nächsten Dorf auf, um Lebensmittel zu kaufen oder um Brennholz, das er geschlagen hatte, gegen Felle oder Kleidung zu tauschen. Und so traf er den Schmid, die Wäscherin, die alte Johanna und all die anderen Menschen, die ihn sogleich ins Herz schlossen – und er sie. Sie besuchten ihn in seiner Hütte und kamen zum Beten in seine winzige Kapelle. Hier zündeten sie gemeinsam mit ihm eine Kerze für die Mutter Gottes an und baten um Hilfe für die, die ihnen am Herzen lagen.
Nach und nach kamen immer mehr Fremde, die nicht aus dem Dorf stammten, um Meinrad um seinen Segen zu bitten und mit ihm zu beten. Sie brachten ihm Geschenke mit, für die sich Meinrad artig bedankte. Dann packte er sie in seinen Beutel und ging ins Dorf, um sie der alten Johanna zu geben oder dem Schmid oder der Wäscherin. Sie alle brauchten es nötiger als er. Die einzigen Geschenke, die er behielt, waren die goldenen Kerzenleuchter, die er in die Kapelle stellte, zu Ehren von Maria.
Als Meinrad nun an diesem Morgen aus der Kapelle kam, sah er von Weitem zwei Gestalten auf dem Waldweg auf seine Hütte zuwandern. Seine beiden Raben ließen sich links und rechts auf seiner Schulter nieder und wisperten ihm ein leises „Kraaah!“ ins Ohr. „Ich weiß, ihr Lieben. Das meine ich auch: Diese beiden kommen nicht der Mutter Gottes Willen, sondern eher, um einmal zu schauen, wie golden denn die Leuchter sind, die ihr zu Ehren brennen, und
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