Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
und erzeugt Blasenkrebs. Die Begeisterung, die das Anilin im 19. Jahrhundert in der Industrie ausgelöst hat, ist von daher schwer verständlich. Was ist das Besondere an Anilin?
Das Besondere ist, dass man mit recht einfachen Mitteln an den einen Stickstoff im Molekül noch einen zweiten anhängen kann. Der zweite Stickstoff stammt aus Natriumnitrit, dann braucht man noch eine starke Säure, in der das Ganze aufgelöst wird, und das funktioniert dann so gut, dass man stark kühlen muss, damit keine unerwünschten Nebenreaktionen auftreten. Es entsteht ein Diazoniumsalz , das man nur selten isolieren kann. Das ist aber auch nicht nötig, denn diese Salze zeigen eine erstaunliche Bereitschaft, mit weiteren aromatischen Stoffen – das sind solche mit dem Sechserring – zu reagieren. Es entstehen Azoverbindungen . Und das sind meistens Farben! Nicht nur Anilin reagiert, sondern auch alle möglichen Abkömmlinge des Anilins, und auch die Partner, mit denen gekuppelt wird (das heißt wirklich so!), streuen über ein weites Feld im Reich der organischen Chemie. Nachdem der deutsche Chemiker Griess diese Reaktion 1862 entdeckt hatte, erfasste die Chemikergemeinde eine Art Azo-Kupplungsrausch. Jeder verfügbare Anilinabkömmling wurde mit jedem greifbaren Kupplungspartner umgesetzt, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Chemiker die Zahl der Azofarbstoffe auf circa 15000 aufgebläht. Man konnte jede gewünschte Farbnuance herstellen und praktisch alles färben, was einem in den Sinn kam, Wolle, Seide, Papier, sogar Lebensmittel. Wir leben heute in einer bunten Welt, das war nicht immer so.
Das Mittelalter war zwar nicht so »finster«, wie man gemeinhin glaubt, aber farblich eher düster. Grau, braun, schwarz. Gefärbte Stoffe waren teuer. Man verwendete Krapp für Rot und Färberwaid für Blau, beides Pflanzen, die auch in Europa wachsen und den Anbaugebieten erhebliche Einnahmen brachten. Aber die Farborgien der Mittelalterfilme aus Hollywood sind reine Fantasie; die Volksmassen liefen farblich eher unauffällig herum. Das ist auch der Grund für das einheitliche Schwarz frommer reformierter Gruppen wie der Pilgerväter, die sich schon durch die Kleidung von der dekadenten, natürlich in teure farbige Gewänder gehüllten Adelsgesellschaft abheben wollten. Auch die Uniformen des Lützowschen Freikorps im Befreiungskrieg gegen Napoleon waren schwarz – anders ließ sich aus den privaten Kleidungsstücken der unbezahlten Freiwilligen keine einheitliche Uniform herstellen. Zum Schwarzfärben brauchte man keine teuren tropischen Hölzer, sondern Eichenrindenabsud und Eisensalze.
Die industrielle Farbenproduktion entstand zwar in England, aber im Lauf des 19. Jahrhunderts übernahm Deutschland die Führung. 1913 stammten drei Viertel aller in der Welt verwendeten Farben aus deutscher Produktion, ebenso 90 Prozent aller in England und den USA gebrauchten Farben. Der Erste Weltkrieg machte dem ein Ende, die deutschen Patente wurden beschlagnahmt. Die erste aus Anilin hergestellte Farbe war allerdings weitaus älter und sie war kein Azofarbstoff. Im Jahr 1856 studierte der achtzehnjährige William Perkin am Royal College of Chemistry in London. Das Institut war erst 1845 von Königin Victoria und Prinzgemahl Albert gegründet worden, Leiter war der schon erwähnte August Wilhelm Hofmann. Er hatte Perkin eingestellt, da war der erst fünfzehn! Nun stellte Hofmann dem jungen Chemiker eine besondere Aufgabe: Er sollte Chinin herstellen. Mit diesem Heilmittel, das in der Rinde eines tropischen Baumes vorkommt, lässt sich die Malaria – nun, nicht heilen, aber wenigstens behandeln; die Briten brauchten es zur Verwaltung ihres Weltreichs in rauen Mengen, möglichst billig und, wenn es geht, aus heimischer Produktion. Was wusste man über Chinin? Im Prinzip nur, dass es 20 Atome Kohlenstoff, 24 Atome Wasserstoff, 2 Atome Stickstoff und 2 Atome Sauerstoff enthielt. Wie die innerlich zusammenhingen, wusste man nicht, die Formel war also unbekannt – was man aber wusste: Die Substanz Allyltoluidin , gewissermaßen ein Verwandter des Anilins, hatte schon einmal halb so viele Kohlenstoff- und halb so viele Stickstoffatome. Beim Wasserstoff stimmte es nicht ganz: 13 statt 12, das wären mal zwei genommen dann genau 2 Wasserstoffe zu viel; die ließen sich aber vielleicht als Wasser abspalten? Was dem Allyltoluidin komplett fehlte, war der Sauerstoff. Was lag also näher, als den Sauerstoff ins Molekül hineinzustopfen, es zu
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