Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
anbiete, mit dem er sich noch lieber verbindet als mit Eisen. Seit alters her nimmt man dazu Kohlenstoff – damit bildet er das allseits bekannte und heute als Treibhausgas gefürchtete Kohlendioxid. Der Kohlenstoff selbst ist kein Problem, der kommt in der Natur in Pflanzen und fossil als Kohle vor. Das Problem bei der Kohle sind die vielen anderen Bestandteile, die sie enthält, vor allem Schwefel und Phosphor; die verunreinigen bei der Eisenverhüttung im Hochofen das Eisen. Seit jeher wurde Eisenerz daher mit Holzkohle verhüttet, die in Meilern im Wald durch umständliches trockenes Erhitzen von Holz entsteht. Die Leute, die sich damit auskannten, die Köhler, Kohler, Köhlmeier und so weiter, waren wichtige Handwerker der vorindustriellen Gesellschaft, die relative Häufigkeit der Namen ergibt sich noch heute daraus.
Mit der Holzkohle gelang das »vom Sauerstoff Befreien«, das Reduzieren des Eisenerzes recht gut, allein, man brauchte dafür ungeheure Holzmengen an Ort und Stelle, weil sich die Holzkohle auf den mittelalterlichen Wegen nicht weit transportieren ließ: sie zerbröckelte zu feinem Staub, der für die Verhüttung unbrauchbar war. Es hat in England nicht an Versuchen gefehlt, von der Holzkohle wegzukommen und auf die preiswertere und transportable Kohle umzusteigen; seit dem 16. Jahrhundert wurden fünfundzwanzig Patente für Verfahren zur Eisenverhüttung mit Kohle vergeben, das erste 1589. Getaugt haben alle miteinander nicht viel, erst um 1710 erfand Abraham Darby I. in Coalbrookdale im Westen Englands ein brauchbares Verfahren zur Kokserzeugung mit anschließender Eisenverhüttung.
Die Bedeutung dieser Großtat lässt sich nicht hoch genug einschätzen! Mister Darby hat die Welt, wie wir sie heute kennen, erst möglich gemacht. Ohne Koks gäbe es zwar Lanzen, Schwerter, Rüstungen und ein paar teure Apparate aus Eisen, aber keine stählernen Brücken, Hochhäuser, keine Motoren und Autos – und kommen Sie mir jetzt nicht mit der Kunstharzkarosserie des Trabi: Das zu ihrer Herstellung nötige Phenol kannte man aus dem Steinkohlenteer (der oben erwähnte Friedlieb Ferdinand Runge hatte es darin entdeckt), aber eben: ohne Koks kein Teer, ohne Teer kein Phenol, ohne Phenol kein Kunstharz …
Zurück zum Anilin: Anilin kommt im Steinkohlenteer nur in geringen Mengen vor. Höher ist der Prozentsatz an Benzol , dem unsubstituierten Ausgangsmolekül der Aromatenchemie . Aus Benzol und Salpetersäure gewinnt man Nitrobenzol , das sich mit Eisenspänen in Salzsäure zu Anilin umwandeln lässt.
Heute stammt auch das Benzol aus Erdöl. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man den Weg der Kohlechemie verlassen und die Grundstoffe systematisch aus Erdöl aufgebaut. Das hat erhebliche geostrategische Konsequenzen. Während nämlich die eine oder andere Art von Kohle in fast jedem Staat der Erde vorkommt – in manchen in wahrhaft gigantischen Mengen –, ist das beim Erdöl bekanntermaßen nicht der Fall. Ein Verbleib der Chemie bei der Kohle hätte dem Nahen Osten nie die Bedeutung zukommen lassen, die er heute hat – es ist allerdings fraglich, ob die Massenmotorisierung westlicher Gesellschaften auf der Grundlage von Treibstoffen aus »Kohleveredelung« möglich gewesen wäre.
Anilin ist nur eine der zahlreichen Substanzen, die aus dem Steinkohlenteer gewonnen wurden. Für die Generation Schenzingers stand es paradigmatisch für einen Reichtum, der den Deutschen durch ein widriges Geschick bis ins 19. Jahrhundert vorenthalten geblieben war: kein Kolonialreich, keine tropischen Schätze, dafür Kohle ohne Ende – ausgleichende Gerechtigkeit für eine Nation, die sich nicht als »verspätet«, wie man das nennen würde, sondern als ewig »zu kurz gekommen« bezeichnen würde. Reichtum aus einer grauenhaft stinkenden, schwarzen Pampe, dem Abfallprodukt schlechthin. Von daher wird die pathetische Überhöhung verständlich, wenn Schenzinger in »Anilin« die Grundreaktion der Kohlechemie beschreibt:
… wird dieses Kohlenstück eines Tages von einem unerbittlichen Griff erfasst und in die große Retorte geschleudert. Hier wird es jäh von scharfer Hitze angesprungen. Die Hitze ist so stark, so zwingend, dass das Steinkohlenstück alles preisgibt, was es in sich birgt. Zuerst gibt es die Gase weg, die Kohlenwasserstoffe, das Ammoniak. Sie entweichen im Helm der Retorte. Dann lässt es die Dämpfe frei, den Teer mit all seinen geheimnisvollen Schätzen … Bis zum letzten ausgeplündert, liegt das Stück
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