Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
wird Alkohol in der Schwerindustrie sogar von Unternehmerseite als »Liebesgabe« verteilt, damit die Arbeiter besonders schwere und kräftezehrende Arbeiten besser bewältigen; das hört erst auf und schlägt ins Gegenteil um, als die deutsche Industrie immer kompliziertere Produkte herstellt, die nicht nur an die Geschicklichkeit und geistige Beweglichkeit der Arbeiter höhere Ansprüche stellen, sondern vor allem an ihre Nüchternheit . Lokomotiven wie bei Borsig und optische Instrumente wie bei Zeiss lassen sich nicht »im Tran« herstellen. Erst von da an wird Nüchternheit am Arbeitsplatz, heute selbstverständlich, zum absoluten Gebot. Seine Durchsetzung dauerte immerhin bis zum Ersten Weltkrieg.
Alkohol ist ein Gift, ein Suchtgift. Ich werde dieses Kapitel nicht noch mit wortreichen Schilderungen der verderblichen Wirkungen des Alkohols belasten, darüber lassen sich Bibliotheken voll schreiben und sind auch vollgeschrieben worden. Um Substanzen, die die Welt veränderten, soll es in diesem Buch gehen. Von allen, die hier vorkommen, ist der Alkohol die wirkmächtigste überhaupt. Die Wirkmächtigkeit einer chemischen Verbindung lässt sich im Vergleich abschätzen, wenn man die eigene Fantasie bemüht, soll heißen: wenn man versucht, sich eine Welt vorzustellen, in der das betreffende Agens nie entdeckt oder erfunden worden wäre. Das fällt bei den einen schwerer als bei anderen. Zum Beispiel ist eine Welt ohne Antibiotika relativ leicht vorstellbar: Viele Millionen müssen auch heute noch ohne diese Medikamente auskommen; noch mein Großvater hat die Ära des Penicillins ganz knapp erlebt; eine solche Welt wäre zweifellos gefährlicher als die unsere und nicht wünschenswert. Aber sie ist denkmöglich – und nicht alle von uns würden an einem rostigen Nagel sterben …
Beim Alkohol ist dieses Gedankenexperiment leicht und schwer zugleich. Viele Menschen auf dieser Welt leben ohne ihn. Aus religiösen, medizinischen oder moralischen Gründen. Eine Welt ohne Alkohol von jetzt an ist deshalb leicht vorstellbar. Aber nicht eine alkoholfreie Welt von Anfang an. Jedenfalls keine westliche Welt.
Das Abendland ist alkoholgetränkt, es riecht danach von Anbeginn; der süßlichfade Duft des gärenden Mets durchzieht die Lehmhütten der Germanen, der Weindunst die Häuser der Römer, der Hefegeruch des Biers die mittelalterlichen Städte, die Schnapsfahne die ärmlichen Behausungen der Proletarier – und natürlich die edlen Aromen von Brandy, Whiskey, Kognac und Co. die Salons und Bibliotheken der Bessergestellten bis zum heutigen Tage. Es ist ganz unmöglich, sich die kontrafaktische Welt vorzustellen, wo das alles nicht so wäre; man kann nicht mehr als zwei Jahrtausende Kulturgeschichte ohne die Tatsache rekonstruieren, dass die Beteiligten (und zwar alle) mal mehr, mal weniger, aber dauernd einen in der Krone hatten! Denn nichts anderes bedeutet die über viele Jahrhunderte sich streckende Aversion (oder Unmöglichkeit), reines Wasser zu trinken. Erst mit dem Aufkommen von Tee und Kaffee ist eine Kultur der Nüchternheit überhaupt möglich geworden.
Ein österreichischer Schriftsteller wunderte sich, als ich ihm vom Plan dieses Buches erzählte: »Nur zwei Drogen?« (Alkohol und Koffein). Der Einwand ist auf den ersten Blick berechtigt, schließlich herrscht in der Medienberichterstattung kein Mangel an natürlichen wie synthetischen Drogen. Warum zum Beispiel kein Nikotin in unserem Dutzend? Den Tabak kennen die Europäer seit fünfhundert Jahren, und während dieser Zeit wurde heftig gequalmt, kein Zweifel. Aber gegenwärtig ist der Tabak auf dem Rückzug. Niemand weiß, was die Zukunft bringt, denkbar ist aber, dass die Raucher aussterben. Noch vor fünfzig Jahren hät te das niemand für möglich gehalten. Ist Ähnliches bei Alkohol oder Koffein zu erwarten? Dafür gibt es keine Anzeichen.
Alkoholdehydrogenase heißt das Enzym, das in der Leber den Alkohol abbaut. Asiatische Völker und die Ureinwohner Amerikas und Australiens haben davon weniger als »wir«. Man darf darin die über viele Generationen wirkende Selektionsmacht der Evolution erkennen: Die, die nichts vertragen, sollten in alkoholgesättigten Gesellschaften geringere Fortpflanzungschancen haben als die Trinkfesten. Tatsächlich? Das wäre einmal genauer zu untersuchen. Bei der Milchzuckerunverträglichkeit wirkt jedenfalls ein ähnlicher Selektionsmechanismus, nur ungleich stärker: Bei den Skandinaviern ist die
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