Von Alkohol bis Zucker - 12 Substanzen die die Welt veränderten
Städte versteht man die Wasserscheu, lagen doch Brunnen und Abtritte nebeneinander; man brauchte keine bakteriologischen Kenntnisse, um zu begreifen, dass man gewöhnliches Wasser tunlichst nicht trinken sollte, Erfahrung genügte. Trinken sollte man etwas anderes, und dieses andere, egal, ob Wein, Bier, Haferbier oder Most, enthielt Alkohol. Allerdings lebten 90 Prozent der Menschen auf dem Land, wo doch die sauberen Quellen nur so sprudeln sollten – ein Ökoparadies. Schließlich war die Landwirtschaft so was von naturnah, naturnäher ging es gar nicht: kein Kunstdünger, keine Pestizide, keine Industrieabwässer. Jeder ländliche Brunnen hätte doch ein Wasser liefern müssen, das man heute auf Flaschen ziehen würde. Aber so gut war die Wasserqualität offensichtlich nicht, alkoholische Getränke hatten im Alltag nichts mit Genuss zu tun, sondern waren Lebensmittel. In einer Landwirtschaft, die mit bestürzender Gleichförmigkeit tausend Jahre lang am Rande der Katastrophe herumkrebst, kann es reine Genussmittel sowieso nicht geben. Bier und Wein müssen gemacht werden; angebaut, gekeltert, gebraut und gehandelt. Man trinkt sie, weil es nötig ist, bei einem Fest, das den trüben Alltag unterbricht, trinkt man vom Gleichen eben so viel, wie man bekommen kann. Die Quantität schlägt dann (hoffentlich) in die Qualität um; wenn man nur genug trinkt, schlägt es um, im grausamen und erbärmlichen Leben leuchtet die Flamme des Glücks wie eine Verheißung des Paradieses. Diese gefühlte und erfahrene Dialektik der Sinne ist dem europäischen Menschen eingeschrieben; für unsere Vorfahren war durch die Übung vieler Generationen der Rausch die einzig reale Erfahrung der Transzendenz. Das ganz andere, den Horizont des Alltags Überschreitende ist die Wirklichkeit des Alkohols in der europäischen Geschichte.
Auf diesem Grundstock allgemeinen (unumgänglichen) Alkoholkonsums der breiten Masse erheben sich im 16. Jahrhundert, Bergspitzen gleich, höfische Trinksitten, die uns in ihrer Maßlosigkeit heute noch erschauern lassen. Die Literatur ist voller Beispiele medizinisch kaum nachvollziehbarer Trinkfestigkeit. Die Mode des »Zutrinkens« hatte sich, von den Landsknechtheeren ausgehend, in der ganzen Gesellschaft durchgesetzt und bei Hofe, also an der Spitze der Pyramide, in besonderer Weise etabliert. Der Historiker Ernst Schubert vertritt in seinem Buch »Essen und Trinken im Mittelalter« die interessante These, dass beides auf die Langeweile einer Lebensweise zurückzuführen ist, die den Aufenthalt an einem Ort erzwingt, ohne entsprechende Aufgaben zu bieten. Beides trifft für das Militär wie für den Hof zu, an dem die Adligen der frühen Neuzeit zugegen sein müssen. Die Kriegführung ist weithin ein Lagerleben ohne produktive Tätigkeit, für den Hof gilt das erst recht. Wie schlägt man also die Zeit tot (wenn sonst gerade niemand totzuschlagen ist)? Mit Saufen. Die fußlosen Gefäße der germanischen Frühzeit kehren als »Sturzbecher« wieder, die auf einen Zug ausgetrunken werden müssen – eben darin besteht das Zutrinken: auf ex. Es gibt keine bessere Art, möglichst viele Alkoholiker zu produzieren, als einen gesellschaftlichen Trinkzwang, dem man sich nicht entziehen konnte. Die Folgen waren so verheerend, dass die Politik versuchte, die Sitte des Zutrinkens zu verbieten oder wenigstens einzuschränken. Es ging allerdings nicht um Alkoholismus, sondern um die fehlende Disziplin in den Landsknechtheeren. Kaiser Maximilian I. versuchte, das Zutrinken auf dem Reichstag zu Worms 1495 einfach zu verbieten, drei Jahre später sah er sich genötigt, das Verbot zu erneuern: »… dass sollich Zutrinken nit gestattet, sondern abgestellt, vermitten und ernstlich gestraft werden soll …«, heißt es im »Reichsabschied« von Freiburg; der Reichsabschied ist die Gesamtheit aller auf einem Reichstag des Heiligen Römischen Reiches gefassten Beschlüsse. Im Adel setzte sich darauf der Trinkspruch durch: »Es gilt dir auf den Reichsabschied!« – eine blanke Verhöhnung der kaiserlichen Autorität. Genutzt hat das alles gar nichts. Wahrscheinlich dachten (und sagten) die Untertanen: Da redet der Richtige! Maximilian war ein leutseliger Monarch. Wenn er in meiner Heimatstadt Feldkirch einkehrte, um seine Geliebte auf Schloss Amberg zu besuchen, versäumte er nicht, mit den Herren des Rates im Garten der Schenke »Zum Schwert« beisammenzusitzen. Was werden die dort getrunken haben? Sicher kein Mineralwasser
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