Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen
Presse veranstaltete zur Zeit ein gewaltiges Geschrei, es seien zu wenig Taxis auf den Straßen. Er hatte erst eine einzige Fuhre gehabt, eine alte Dame vom Flughafen Tempelhof nach Neukölln – genau DM 5, – , mit Trinkgeld. Er hätte sich lieber an irgendeinen Halteplatz stellen und dort warten sollen; der Chef fluchte immer über die vielen Leerkilometer. Aber er scheute die bissigen Bemerkungen der Kollegen. Er hatte lange Haare, die hinten auf den Kragen seiner cognacfarbenen Wildlederjacke stießen, er trug einen Schnauzbart, und er war Student. Natürlich stand er sehr weit links, aber er war kein Eiferer und kein Agitator. Er verstand wohl, warum sie auf Abwehr schalteten, wenn er sich zu ihnen stellte; er hielt den Mund oder gab ihnen sogar recht, wenn sie auf die Parasiten, die Nichtstuer und die Anarchisten schimpften. Aber es half ihm wenig.
Er dachte an Sabine, die mit einer Gruppe nach Ibiza gefahren war und zur Stunde garantiert mit dem Reiseleiter schlief. Sie hatte eine Schwäche für Reiseleiter. Wenn er was dagegen sagte, lachte sie ihn aus. Sie studierte Medizin; ihr Vater war Chefarzt einer privaten Klinik.
Er bog in die Schlüterstraße ein, um dann über die Kantstraße zum Zoo zurückzufahren. Immer noch kein Fahrgast. Wenn das so weiterging, war es nichts mit dem Flug nach Südamerika.
An der Ecke standen die ersten Prostituierten. Kurz hinter der Mommsenstraße mußte er vor einer Baustelle halten, weil ihm ein Thermolastzug entgegenkam. Sein Blick fiel auf das hohe, mit Stuck überladene Portal eines vierstöckigen Hauses, in dessen erster Etage eine Pension untergebracht war. Das Licht im Flur flammte auf, und er sah einen Mann im grauen Sommeranzug die Treppe herunterkommen. An seiner Seite ging ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren und einem knappen Lederrock. Er stopfte ihr noch etwas in ihre korallenrote Handtasche. Vor dem Haus verabschiedeten sie sich mit einem schnellen Händedruck, und der Mann winkte Borkenhagen heran.
Borkenhagen hielt neben der Bordsteinkante, lehnte sich nach hinten, stieß die Tür auf und ließ den Mann einsteigen. Er kam ihm irgendwie bekannt vor.
„Badenallee!“ sagte der Mann mit barscher Stimme.
„Neu-Westend, ist recht…“ Borkenhagen klappte das Freizeichen herunter, schaltete die Uhr ein und fuhr los. Es roch nach Alkohol; der Mann im Fond mußte schon einiges getrunken haben.
Borkenhagen hatte Mühe, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Es ließ ihm keine Ruhe; er mußte unbedingt herausbekommen, wo er diesem Fahrgast schon mal begegnet war. Ein alter Lehrer war es nicht, ein Redakteur von der Illustrierten auch nicht, und draußen in der Nähe seiner Laube war er ihm bestimmt noch nicht über den Weg gelaufen – Kleingärtner und Bewohner von Laubenkolonien pflegen keine Brillantringe am kleinen Finger zu tragen.
„Machen Sie mal Musik an!“ kam die Stimme von hinten.
Borkenhagen gehorchte. Für einen Augenblick hatte er den Kopf des Mannes im Rückspiegel – einen birnenförmigen Kopf. Kleines Gesicht; dünne, streng nach hinten gekämmte dunkelbraune Haare, stark mit grauen Strähnen durchsetzt. Große, etwas abgeplattete Nase mit auffallend fleischigen Flügeln. Bräunliche Haut, soweit Borkenhagen das erkennen konnte; einige dunkle Altersflecke. Etwas abstehende, überdimensionierte Ohren, Doppelkinn, kleine und listige wässerigblaue Augen…
Beim Überqueren der Kreuzung Messedamm und Masurenallee machte es plötzlich Klick bei Borkenhagen: Max Nedomanski war das – natürlich! Er kannte ihn vom TuS Westend her, da hatte er sich als Mäzen der Leichtathletik-Abteilung versucht. Das mußte bald zehn Jahre her sein.
Borkenhagen dachte nicht daran, Nedomanski anzusprechen; er hatte ihn nie sonderlich gemocht. Für ihn war das einer von diesen Kapitalisten, die schuld daran waren, daß es in dieser Gesellschaft so zuging, wie es nun einmal zuging… Borkenhagen hatte selber das Gefühl, daß dies etwas verschwommen war für einen Journalisten, und er war sich auch durchaus bewußt, daß er lernen mußte, seine Antipathien im Bedarfsfall zu verdrängen, wenn er ein halbwegs guter Journalist werden wollte.
Er umrundete den Theodor-Heuss-Platz und bog in die Heerstraße ein. Zwei Minuten später hatte er die Badenallee erreicht. Zurückgesetzte Villen, parkähnliche Gärten; eine Gegend für die oberen Zehntausend.
„Halten Sie!“ sagte Nedomanski.
Borkenhagen nahm das Gas weg und trat sanft auf die Bremse.
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