Von Beileidsbesuchen bitten wir abzusehen
viel Wasser im Mund hatte, daß es nur noch gurgelte. Mit wilder Kraft schwamm er auf mich zu, die Todesangst trieb ihn voran. Ich richtete meine Geschwindigkeit so ein, daß ich ihm immer eine knappe Bootslänge voraus war. Dabei fuhr ich noch, den starken Wellengang mißachtend, im Kreise herum, so daß er langsam alle Energien verbrauchte, ohne dem fernen Ufer näher zu kommen. Hin und wieder ließ er sich treiben und verfluchte mich. Dann kämpfte er sich wieder an das Boot heran.
Ich sorgte dafür, daß der Motor für Sekunden stotterte und die NEDO III an Fahrt verlor. Er konnte wieder hoffen. Wenn der Motor versagte, war er gerettet. Ich tat verzweifelt und sah, wie er seine letzten Kraftreserven mobilisierte. Er kam auch heran…
Ein einziger Meter noch bis zum Heck des Bootes, ein halber Meter; schon schlägt er die Beine zusammen, um aus dem Wasser zu schnellen und den rot-weißen Rettungsring zu packen – da lasse ich das Boot mit einem schnellen Griff zum Gashebel davonschießen.
Er versinkt im aufgewühlten Wasser, fängt sich wieder, schnappt nach Luft…
Ich mußte mehr als fünf Minuten warten, bis er verschwunden war. Endgültig verschwunden.
Das sind nur drei von vielleicht dreihundert inzwischen vollgeschriebenen Blättern. Ein Tagtraum von Walter Nedomanski; er hat ihn für mich aufgeschrieben, nachdem es mir gelungen war, ihn unter Alkohol zu setzen… Das wäre eigentlich ein guter Aufhänger für die Story.
Bloß zu lang, verdammt noch mal! Vier Seiten, hat der Chefredakteur gesagt… Der spinnt ja – vier Seiten! Das soll er mir erst mal vormachen. „Straffen, -ky, straffen!“ hat er gesagt, „das ist das ganze Geheimnis!“ Rindvieh. Daß er mich -ky nennt, stört mich nicht mehr; die ganze Redaktion ruft mich bei meinem Kürzel. Ein paar sagen auch einfach Doktor zu mir… Nein, aber daß er immer solche Banalitäten… Ach was: soll er doch.
Genau 20 Uhr ist es, und ehe ich ins Bett gehe, muß ich mich entschieden haben, ob ich diesen Tatsachenbericht nun schreibe oder nicht. Tatsachenbericht. Ob da ein Traum… Ich glaube, ein Traum ist doch kein guter Aufhänger. Ich sortiere die Blätter besser gleich aus. Bleiben noch 297 Seiten Material für vier Seiten Text… Scheiße.
Aus den Bergen von Papier, die hier vor mir liegen, sollen vier Illustriertenseiten werden, maximal vier, einschließlich der Fotos. Das schafft kein Mensch! Aber ich habe viel zuviel Arbeit in die Nedomanski-Story investiert, um sie jetzt so einfach in der Schublade verschimmeln zu lassen.
Tatsachenbericht? Daß ich nicht lache! Wo habe ich denn wirklich Fakten? Das meiste sind doch Thesen, Mutmaßungen, Spekulationen… Egal; bevor das Material nicht durchgesehen ist, läßt sich gar nichts sagen.
Ich fürchte, das Ganze scheitert daran, daß ich keinen Anfang finde. Vielleicht geht es doch mit dem Tagtraum von Walter Nedomanski. Man müßte nur dezent andeuten, daß das, was anfangs nur Traum ist, sehr schnell Wirklichkeit werden kann. Oder daß Max Nedomanski durchaus in der Lage ist, den Spieß auch umzudrehen. Und irgendwie müßte man dem Leser sagen: Keine Angst, du kriegst deinen Mord auf alle Fälle – nur ein Stückchen weiter hinten; und es bleibt jemand auf der Strecke, der nicht im Traum daran gedacht hat… Die Auswahl an Opfern ist groß. Ich brauche nur mal meine Zettel durchzublättern.
Max und Walter Nedomanski hatten wir schon; nehmen wir mal Tina.
Blatt Nr. 24. Martina (,Tina’) Dahms, 24, Sekretärin und Geliebte von Max Nedomanski. Schweres Schicksal, von N. aus dem Dreck gezogen, geisteskranke Mutter (Schizophrenie). Szene von mir nach einem vertraulichen Bericht der Sachbearbeiterin Ingeborg B. gestaltet.
Tina ist klein, zart, zerbrechlich, mädchenhaft. Ihr Gesicht ist schmal, die dunklen Haare fallen lang auf die Schultern herab. Ihre Augen sind groß, braun, mandelförmig, ein wenig japanisch. Ihr Näschen ist breit und trägt eine aufgesetzte Kuppe – Himmelfahrtsnase sagt man in Berlin. Max Nedomanski hat einen ausgeprägten Lolita-Komplex, und sie ist das Kleinod seiner Sammlung. Er besucht sie regelmäßig in dem Apartment, das er ihr in der Nähe des Kurfürstendamms eingerichtet hat.
Aber das reicht ihm nicht. Er ist es nicht gewohnt, die Befriedigung seiner Bedürfnisse auf die lange Bank zu schieben. So kommt er eines Nachmittags in sein Vorzimmer und schließt die Türen hinter sich ab. Er riecht nach Schweiß und Alkohol.
„Was soll denn das?“
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