Von den Sternen gekuesst
jeder. Obendrauf noch die – ich schätze mal – doppelte Stärke eines Revenants, Durchhaltevermögen und so weiter … Sie hätte Paris in null Komma nix unter Kontrolle. Ohne dass ich jetzt hier zu sehr nach einer Comic-Superheldin klingen möchte, aber wenn schon das Schicksal von Paris, vielleicht sogar ganz Frankreichs oder Europas auf meinen Schultern lastet, dann muss ich allmählich mal einen Weg von diesem Boot finden.
Louis ist wieder da und gibt sich redliche Mühe, die stumme Krankenschwester zu mimen. Aber diesmal bin ich wild entschlossen, ihn zum Reden zu bringen.
»Ich weiß, dass du nicht mit mir sprechen darfst. Ich vermute, du bist nicht wesentlich jünger als ich. Und ich schätze, du willst genauso wenig hier sein wie ich.«
Kurz lässt er mich hinter seine Maske sehen und erwidert meinen Blick, doch dann wird sein Ausdruck wieder leer und er konzentriert sich darauf, mich zu füttern. Doch ich habe entdeckt, wonach ich gesucht habe: Traurigkeit. Verzweiflung.
Ich kaue das Stück Apfel, das er mir gerade in den Mund gesteckt hat, und überlege, was ich als Nächstes fragen soll. Wo sind denn diese tollen Überzeugungssuperkräfte, wenn man sie braucht? Ich entscheide mich, einfach die Wahrheit zu sagen. »Ich habe nicht darum gebeten, Louis. Ich will gar nicht die Meisterin sein. Nicht mal ein Revenant. Am liebsten würde ich einfach wieder ein ganz normales Mädchen sein und dieser durchgeknallten mittelalterlichen Schnepfe nie wieder begegnen.«
Louis erstarrt, weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Meine Wut scheint er nachvollziehen zu können, doch meine Ehrlichkeit verwirrt ihn. Ich kann erkennen, dass ich etwas in ihm berührt habe. Er steht auf, geht zur Tür und schließt sie leise, bevor er wieder zu mir ans Bett kommt. »Sie hat mir verboten, mit dir zu sprechen«, flüstert er. »Sobald ich das Gefühl habe, du willst mich zu irgendwas überreden, soll ich ihr das melden.«
»Das ist sogar nachvollziehbar, wenn sie davon ausgeht, dass ich eine übernatürliche Gabe besitze, andere zu überzeugen«, sage ich. »Sie muss dir wirklich sehr vertrauen, wenn sie dich allein zu mir lässt.«
»Vertrauen?«, schnauft Louis. »Was glaubst denn du, warum wir auf einem Boot sind und sie sich nie weiter als ein paar Meter von dir entfernt?«
Meine Nase läuft. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Taschentuch. Ich schniefe ein paarmal und versuche dann, mir die Nase an der Schulter abzuwischen. Louis springt auf, holt ein Handtuch und tupft damit mein Gesicht sauber.
»Danke«, sage ich. Dann kommt mir etwas in den Sinn. »Sag mal, warum hast du dich im Crillon dafür entschuldigt, dass du mich festgehalten hast?«, frage ich, während er das Handtuch faltet und auf einen Beistelltisch legt.
Er beobachtet mich quer durch die Kajüte. Wägt ab. Dann presst er fest die Augen zusammen und reibt sich besorgt die Stirn. »Ich war fast vierzehn, als ich gestorben bin. Das ist erst wenige Monate her«, sagt er mit so angespannter Stimme, dass ich schon fürchte, ihm platzt gleich die Kehle.
Er atmet hörbar aus und kommt wieder zu mir. »Ich wollte niemanden töten. Obwohl, gut, doch. Ich wollte es. Aber doch nur kurz. Ich bin einfach durchgedreht und kurzzeitig verrückt geworden oder so. Ich habe den Typen so sehr gehasst für das, was er uns und meiner Mutter angetan hat.« Er schüttelt sich und dann den Kopf. Mehr will er über seine Vergangenheit nicht mitteilen.
»Mir … Mir tut das alles einfach so leid. Ich will nicht so sein. Sie hat mich gefunden und zu ihrem Günstling erklärt. Am liebsten würde ich sterben, dabei ist nicht mal das mehr möglich.«
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.
»Ich muss jetzt gehen«, sagt er und ist schon fast auf dem Weg.
»Warte!«
»Warum?«, fragt er und dreht sich zu mir um.
»Danke.«
»Wofür?« Er sieht misstrauisch aus.
»Fürs Reden. Fürs Naseputzen. Einfach so allgemein … Danke.«
»Ich habe gar nichts gemacht«, sagt er, seine Augen verengen sich. Dann geht er wirklich und schließt die Tür hinter sich.
Ich liege dort und starre an die Decke. Louis ist wie Violette. Eine Laune der Natur. Er ist durch viel Pech zum Numa geworden, ganz so wie Violette zum Revenant. Und nun ist er dazu verdammt, ihr Partner zu sein, zumindest so lange, bis sie ihn satthat. Was ja zumindest in Arthurs Fall nur so um die fünfhundert Jahre gedauert hat.
N ur einen Augenblick später spüre ich, dass wieder jemand in der Kabine
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