Von den Sternen gekuesst
Reaktion meines Körpers auf die heftigen Schmerzen. Und ich verstehe auch, woher sie kommen. Jede einzelne abgestorbene Zelle meines Körpers wird gerade zu neuem Leben erweckt. Der Gedanke ist verdammt gruselig, darüber hat Vincent gar nichts erzählt.
Er hat mir eine ganze Menge nicht erzählt. Wohl weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich mich je in dieser Situation wiederfinden würde. Wir waren beide nicht davon ausgegangen, dass ich so bin wie er. Doch wenn ich mir Violettes Aufzählung ins Gedächtnis rufe, muss ich mir eingestehen, da hätten wir eigentlich selbst draufkommen müssen. Hätte uns nicht zu sehr die Annahme geblendet, dass Vincent der Meister ist, wäre uns der Gedanke vermutlich auch gekommen.
Aber dann wäre sowieso alles anders gewesen. Dann hätten wir uns keine Gedanken über meine Sterblich- und seine Unsterblichkeit machen müssen. Weil auch ich an irgendeinem Punkt unsterblich hätte werden können. Und jetzt hatte ich endlich die Möglichkeit, buchstäblich für immer mit Vincent zusammenzubleiben, wenn da nicht eine Person wäre, die mir nach dem Leben nun auch noch die Unsterblichkeit nehmen will.
Das soll sie erst mal versuchen , denke ich. Meine Wut gibt mir ein Gefühl von Allmacht. Mit Gewalt reiße ich an meinen Fesseln, krümme mich in meiner Verzweiflung wie eine Irre und doch handele ich mir davon nur blutige Arme ein.
Ich lausche meinem langsamen Herzschlag und beobachte den Lichtwechsel vor dem Bootsfenster, um mir einen Überblick über die Tageszeit zu verschaffen. Es muss früher Vormittag sein, als Louis das nächste Mal erscheint und mich wieder füttert. Das Essen und Trinken im Liegen fällt mir nicht gerade leicht, um es mal vorsichtig zu formulieren. Aber ich bin so ausgehungert, dass ich es irgendwie schaffe, zu kauen und zu schlucken. Und auch drinzubehalten.
»Wie alt bist du?«, frage ich irgendwann.
Erst werden seine Augen groß, dann schmal. Seine Kaumuskeln spielen, er beißt die Zähne aufeinander und schüttelt den Kopf. Schnell sammelt er alles auf dem Tablett zusammen und verlässt die Kabine.
Ich schließe die Augen und versuche, mich zu entspannen. Das ist nicht leicht, weil sich jeder Muskel meines Körpers bewegen will. Am liebsten würde ich aufstehen, aber wegen der Fesseln kann ich nur Arme und Beine frei bewegen. Also mache ich das. Und dann beuge und strecke ich Finger und Zehen, bevor ich erneut versuche, mich zu entspannen. Mehr kann ich nicht tun, mal abgesehen davon, mir Sorgen darüber zu machen, wie es meinen Großeltern und Georgia geht. Sie werden glauben, dass ich tot bin. Und trauern. Schon wieder. Bei der Vorstellung schmerzt mein Herz so sehr, dass ich den Gedanken aus meinem Kopf verbanne und mich stattdessen mit einer möglichen Flucht beschäftige.
Ich schaue mir die Riegel des Fensters genau an und präge mir alle Einzelheiten der Kajüte ein. Da ich nicht weiß, wozu ich fähig bin, fällt es mir schwer, eine Strategie zu entwickeln. Ich wünschte, ich hätte Vincent noch gezielter über die spezifischen Fähigkeiten der Revenants ausgehorcht.
Und was, wenn ich wirklich die Meisterin bin? Was hatte Vincent mir noch gleich über die Prophezeiung erzählt, abgesehen von den außerordentlichen Fähigkeiten, die Violette letztens genannt hat? Stärke. Durchhaltevermögen. Ich frage mich, ob ich Superkräfte habe. Erneut ziehe ich mit Gewalt an meinen Fesseln, doch nichts passiert. Sie reißen nicht wie Seidenfäden. Also gut … Hulk bin ich schon mal nicht. Bleibt mir nur zu hoffen, dass das mit dem Durchhaltevermögen stimmt, sonst werde ich verrückt, wenn ich noch länger an dieses Bett gebunden bleibe.
Als die Sonne draußen im Zenit steht – Mittag , denke ich –, erreicht auch meine Verzweiflung ihren Höhepunkt. Wenn Violette recht behält, bin ich morgen körperlich wiederhergestellt. Ich muss hier verschwinden, bevor es so weit ist. Dabei ist es nicht mal die Angst, erneut getötet zu werden, die mich antreibt. Nein, ich muss unter allen Umständen verhindern, dass sie sich durch meine Meisterkräfte in eine überirdische Megakillerin verwandelt, die die Bardia auslöscht.
Zu lebhaft war mir noch die Geschichte über den Numa im Gedächtnis, der die Kräfte des indischen Meisters auf sich übertrug, um dann eine ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen, bevor er endlich gestoppt werden konnte. Violette hat nun wirklich keinen Bedarf an mehr Überzeugungskraft, ihr folgt ja schon jetzt bereitwillig fast
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