Von den Sternen gekuesst
Ausbruchsversuch zu wagen. Neugierig berühre ich meine Brust, öffne das Hemd an der Stelle, in die Violette den Dolch gerammt hat. Eine dicke Schicht getrocknetes Blut bedeckt meine Haut, weshalb ich die Wunde nicht ausmachen kann. Ich fahre mit dem Finger über das Brustbein, über den Punkt, an dem die Klinge eingedrungen ist. Alles fühlt sich glatt an. Es gibt keine Wunde. Nicht mal eine Narbe. Es schüttelt mich und die Härchen an meinen Armen stellen sich auf.
Wenn ich nicht eh schon davon überzeugt gewesen wäre, unsterblich zu sein, hätte das wohl die letzten Zweifel ausgeräumt. Meine Übernatürlichkeit kann ich nun nicht mehr leugnen.
Ich setze mich auf und schwinge die Beine über die Bettkante. Sofort strömt mir das Blut in die Oberschenkel, ein Kribbeln wie bei eingeschlafenen Körperteilen setzt ein. Ich versuche aufzustehen, plumpse aber sofort wieder aufs Bett, wo ich erst mal verharre, bis ich meine Zehen spüren kann. Ich warte noch einen Augenblick, dann versuche ich noch einmal aufzustehen. Diesmal klappt es und ich humpele unter Schmerzen zum Fenster.
Ich nehme den Schlüssel in die Hand, den Louis vorhin hier abgelegt hatte, und stecke ihn in das Schloss. Er passt. Ich drehe ihn und greife dann nach dem Fensterhebel. Mit zusammengebissenen Zähnen bewege ich ihn, bemüht, dabei kein Geräusch zu machen. Dann drücke ich das Fenster langsam Zentimeter für Zentimeter auf. Als nichts passiert, wage ich es, den Kopf hinauszustrecken und mich umzusehen. Bis zum Boden des Hauptdecks sind es vielleicht zwei Meter. Es ist niemand in Sicht.
Ich schüttele Arme und Beine, versuche, den Kreislauf anzuregen. Dann wuchte ich mich auf die Fensterbank und lasse die noch immer leicht tauben Beine hinunterbaumeln, drehe und senke mich auf die Ellbogen und lasse mich langsam so weit herunter, bis ich nur noch mit den Fingerspitzen Kontakt zum Fensterbrett habe. Dann lasse ich los und lande lautlos auf dem Deck.
Oder zumindest hatte ich das vor. Doch meine blutverkrusteten Chucks knirschen beim Aufkommen auf die Holzplanken. Außerdem zwingt mich die Wucht des Aufpralls in die Knie. Ich kann nicht wie sonst einfach aufspringen, ich muss warten, bis sich die so lange ungenutzte Beinmuskulatur wieder entkrampft.
So hocke ich dort für volle drei Sekunden und mein Herz schlägt wie eine Trommel, vor Panik, dass Violette auftaucht, bevor ich mich in die Sicherheit des Wassers begeben kann. Bleib ruhig und konzentrier dich , mahne ich mich und schaue mich nach etwas um, das für den Fall der Fälle zur Waffe taugen könnte.
Ich entdecke etwas, genau im richtigen Moment. Denn als ich mich mühevoll aufrichte, spüre ich, dass sich mir eine Hand schwer auf die Schulter legt. Als ich aufschaue, blicke ich in das finstere Gesicht eines der Numa aus dem Hotel.
H e!«, ruft der Numa. Ich schnappe mir ein Ruder von der Wand direkt neben mir, und bevor er die anderen alarmieren kann, knalle ich es ihm gegen den Kopf, so fest ich kann. Zwar bin ich noch schwach, scheine aber den richtigen Punkt getroffen zu haben, denn er lässt mich los und taumelt rückwärts. Genau in dem Moment erscheint ein weiterer Numa an Deck und stürzt auf mich zu.
»Was geht hier vor?«, höre ich Violette kreischen, doch da springe ich schon vom Boot ins eisige Wasser.
Mit energischen Zügen halte ich aufs Ufer zu. Davon, dass ich die Meisterin bin, spüre ich nicht viel, stärker hat es mich bisher jedenfalls nicht gemacht. Ich fühle mich müde und schwach, einzig die Panik treibt mich schnell durchs Wasser. Ich danke meinen Sternen, dass ich schon zu Lebzeiten eine gute Schwimmerin war.
Schon zu Lebzeiten. Mir schnürt es die Luft ab, ich komme aus dem Takt. Ich bin ein Monster. Nein, du bist ein Revenant , berichtige ich mich selbst und dränge mich zum Weiterschwimmen.
Hinter mir platscht etwas ins Wasser, dann noch etwas. Ich gehe davon aus, dass die Numa die Verfolgung aufnehmen, will aber keine Zeit damit verlieren, mich umzusehen. Meine Muskeln brennen vor Schmerz, doch ich kämpfe mich weiter durch das Wasser, das Ufer fest im Blick.
Plötzlich ist wieder jemand in meinem Kopf. Gaspard. Kate, ich bringe die anderen dahin, wo du an Land gehst, aber die Numa werden dich vor uns erreichen. Du wirst gegen sie kämpfen müssen.
Kannst du weit genug in die Zukunft sehen, um mir zu sagen, ob ich sie besiege? , frage ich, bemüht, das Tempo zu halten.
Nein, so weit kann ich leider nicht sehen, aber ich glaube fest
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