Von den Sternen gekuesst
unseres kleinen Handgemenges auf Montmartre gefragt hatte. Er wollte wissen, ob ich es für möglich halte, dass du durch die viele Zeit, die du mit Revenants verbracht hast, die Fähigkeit entwickelt haben könntest, die Numa-Aura zu erkennen. Damals habe ich das verneint, aber wenn deine menschliche Wahrnehmung gesteigert wäre, hätte das diese Entwicklung natürlich erklärt.«
Sie fährt sich mit der Hand glättend über die Haare und wirkt höchst zufrieden mit sich. Ich würde ihr am liebsten sagen, wo sie sich ihre lächerliche Theorie hinstecken soll, doch sie ist noch nicht fertig. Und ich muss erst alles hören.
Violette verschränkt die Arme vor der Brust. Mit der einen Hand gegen ihre fein ausdefinierten Oberarmmuskeln tippend, fährt sie fort. »Und dann ist da natürlich noch die nicht zu verachtende Tatsache, die diese guérisseur -Frau Gwenhaël meinen Männern erzählt hat, zugegebenermaßen nicht ganz freiwillig. Nämlich, dass der Meister diejenige Person ist, die den letzten Numa-Anführer getötet hat. Ich weiß, dass Vincent dich besessen hat, als Lucien starb, trotzdem hast du das Messer geworfen.
Und dann konzentrierte ich mich auf dich anstatt auf Vincent und schon ergab alles einen Sinn. Und jetzt hab ich dich endlich hier bei mir. Da ich weder ein guérisseur noch eine Seherin bin, kann ich leider nicht beurteilen, ob deine Aura, wie in der Meisterverkündigung steht, ›strahlt wie ein verglühender Stern‹. Ich werde mein Glück also einfach versuchen und dich zerstören, sobald du vollends zum Revenant gereift bist. Wie sagt man heutzutage … Dazu muss ich mir ja wirklich kein Bein ausreißen.« Als ihr bewusst wird, was sie da gerade gesagt hat, reibt sie sich erneut über die noch heilende Wunde an der Hand und ringt sich ein Lächeln ab. »Um eins nicht zu vergessen, du hast dich mir geopfert. Das heißt, die Kräfte des Meisters gehen dann vollständig auf mich über.«
Nein , denke ich. Sie muss sich irren. Doch ich bleibe stumm, weil ich ihr die Genugtuung darüber, wie sehr sie mich verwirrt hat, nicht gönne. Da ich nicht reagiere, steht Violette auf, geht zu einem Tisch, der sich neben der Feuerstelle befindet, und schreibt vornübergebeugt etwas in ein Notizbuch.
Ich schließe die Augen und denke darüber nach, was sie gerade erzählt hat. Ich glaube ihr nicht. Ich kann einfach nicht. Wieso sollte ich der Meister sein? Das war doch so eine Art untoter Superheld. Zumindest eine der Voraussetzungen erfülle ich dann mittlerweile , denke ich und schon trifft mich wieder dieser unbändige Schmerz, weil ich mir noch einmal eingestehen muss, dass ich jetzt untot bin. Eine Träne rollt mir die Wange hinunter, denn allein diese schreckliche Bezeichnung tut schon so unendlich weh. Aber ich reiße mich zusammen, ich muss weiterdenken.
Immer wenn Bran vom Meister sprach, hatte er die männliche Form und das männliche Pronomen »er« verwendet. In der Prophezeiung, die er uns vorlas, hieß es durchweg »der Meister«, niemals »die Meisterin«. Das musste doch etwas zu bedeuten haben, oder etwa nicht? Waren nicht alle davon ausgegangen, dass der Meister ein Mann ist? Und wenn Bran gewusst hätte, dass ich die Meisterin bin, hätte er dann nicht das richtige Geschlecht verwendet? Nicht unbedingt , denke ich. Vielleicht wusste er es ja gar nicht, ich war ja noch kein Revenant.
Und dann fällt mir noch etwas ein. Ziemlich genau nachdem er Jean-Baptistes Hand geschüttelt hatte und zum Seher des Auserkorenen geworden war, hatte er mich immer so merkwürdig angesehen. Anfangs fragte ich mich noch, ob vielleicht mit meinen Haaren etwas nicht stimmte. Aber vielleicht hatte er ja gar nicht meine Haare betrachtet, sondern meine Aura? Er hat auch immer so eigenartig geblinzelt , denke ich mit aufkommendem Horror. Wenn meine Aura wirklich so hell strahlt wie »ein verglühender Stern«, war es ja nicht weiter erstaunlich, dass Bran mich nicht mehr normal ansehen konnte.
Meine Gedanken verselbstständigen sich und jede neue Erkenntnis trifft mich wie der Stich einer verrückt gewordenen Hornisse. Bran hatte darauf bestanden, dass der Meister noch nicht auferstanden war. Und er wollte nicht einmal alle Bardia treffen, um das zu überprüfen. Weil er schon längst wusste, dass ich es bin. All die Seitenblicke, die er mir zugeworfen hatte, wenn das Gespräch auf den Meister kam. Und seine Bereitschaft, mich ins Archiv der Flammenfinger zu schicken.
Und dann erinnere ich mich an die Worte,
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