Von den Sternen gekuesst
Nacht bleiben wollte oder musste. Ich hatte es noch nie betreten.
Ihre Schritte waren auf dem Teppich kaum zu hören. Sie steuerte auf eine Lampe zu, deren Schirm unzählige Fransen zierten, schaltete sie an und griff nach etwas, das danebenlag. Als sie wieder bei mir war, legte sie es mir in die Hand. Es war ein herzförmiges Medaillon aus Silber und Glas.
Vorsichtig betrachtete ich das kleine, dickliche Schmuckstück. Auf der silbernen Seite war ein Blütenzweig eingraviert, mit dem Finger fuhr ich über die fein ausgearbeitete Pflanze. »Vergissmeinnicht«, sagte Jeanne. Für einen Moment fühlte es sich an, als hätte jemand mein Herz mit der Faust umfasst und fest zugedrückt. Vincents Körper war fort, aber ich würde ihn trotzdem nicht vergessen. Oder doch? Würde ich die Erinnerung an ihn und sein Gesicht auch mehr und mehr verlieren, weil sie allmählich von Fotografien überlagert wurde – wie das schon bei meinen Eltern der Fall war?
Ich drehte das Medaillon. Hinter der feinen Glasscheibe war etwas Dunkles, weshalb ich den Anhänger mit dieser Seite ins Licht hielt. Im Medaillon eingefasst war eine Strähne rabenschwarzes Haar.
I st die von Vincent?«, flüsterte ich.
Jeanne nickte.
»Wie kommst du daran?« Wie gebannt starrte ich auf den mysteriösen Anhänger in meiner Hand.
»Das Medaillon stammt aus Gaspards Andenkensammlung«, antwortete Jeanne. »Er hat gesagt, ich darf es dir geben.«
»Aber ich meinte das hier«, sagte ich und hielt ihr die Glasseite hin. »Wie kommst du an eine Strähne von Vincents Haaren?«
Jeanne dachte einen Augenblick lang nach und sagte dann: »Es ist wahrscheinlich einfacher, wenn ich dir das zeige.« Sie deutete zu einem Ecktisch, auf dem viele wunderschöne, handgemachte Silber- und Emaillekästchen drapiert waren. Ein paar einfache Kerzen in schmuckvoll gestanzten Dosen standen ebenfalls darauf.
»Das ist ein Brauch, den ich von meiner Mutter übernommen habe. Eine Gepflogenheit, die meine Großmutter bereits an sie weitergegeben hat. Wir haben einfach schon immer das Gefühl, eine besondere Verantwortung für unsere Revenants zu tragen. Deshalb tun wir auch unser Möglichstes, um ihr Überleben zu sichern. Ich bin nicht wirklich religiös, Kate, doch ich bete trotzdem jeden Tag für meine Schutzbefohlenen.«
Ich griff nach einem der winzigen Kästchen und hob den geprägten Deckel ab. Eine rote Haarsträhne lag darin, auf reichlich blauem Samt gebettet. »Charles«, flüsterte ich.
»An ihn habe ich in der letzten Zeit am meisten gedacht«, sagte Jeanne und schüttelte betrübt den Kopf. »Es gab wohl selten einen Jungen, für den man dringender eine Kerze anzünden sollte.« Sie berührte ein Kästchen, dessen Deckel ein Mosaik aus blauen und grünen Blättern zierte. »Das ist Vincents«, sagte sie. Ich nahm es in die Hand und öffnete den Deckel. Es war leer, abgesehen von der Samtpolsterung.
»Nun habe ich mein kleines Andenken an Vincent an dich weitergeben. Ich erwarte von dir, dass du von nun an für sein Wohlbefinden betest«, fuhr Jeanne fort.
»Das mache ich«, versprach ich.
Zufrieden nickte sie zum hinteren Teil des Tisches, wo Dutzende dieser feinen Kästchen neben- und übereinandergestapelt waren. »Und selbst wenn wir sie verloren haben, bringe ich es nicht übers Herz, ihre Kästchen auszusortieren. Das konnte schon meine Mutter nicht, geschweige denn meine Großmutter.«
Ein Schaudern überfiel mich. Diese Stapel verkörperten also die Anverwandten der Pariser Revenants, die den Numa zum Opfer gefallen waren.
»Vincent ist noch unter uns, meine liebe Kate«, sagte Jeanne, »wenn auch nur als Geist. Du musst jetzt sehr tapfer sein.«
Nur als Geist. Diese Worte und Jeannes Gesicht, auf dem sich Untröstlichkeit und Mitleid spiegelten, machten mir bewusst, dass diese Strähne das Einzige war, was mir von Vincents irdischem Wesen noch blieb. Er war jetzt ein Gespenst. Körperlos. Wie sah wohl die Zukunft aus für ein Mädchen und einen Geist? Ein unendlicher Schmerz stach mir ins Herz. Ein Schmerz, der nicht aufhören würde, bis ich Vincent das nächste Mal berühren konnte. Und das ist völlig unmöglich, weil sein Körper für immer fort ist , brachte ich mir ein weiteres Mal vor Augen.
Wollte Vincent mir nicht genau das sagen, kurz bevor er aus meinem Kopf verschwunden war? Und er hatte ja recht … Außer mit seiner abschließenden Feststellung: Ich werde immer in deiner Nähe sein. Ich werde immer auf dich aufpassen. Von nun an
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