Von den Sternen gekuesst
mich unterm Tisch hervor. Der guérisseur schaute zu mir auf und blinzelte kurz auf diese schmerzerfüllte Weise, die er zeigte, seit er Bran angefasst hatte. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dennoch bekam ich noch immer ein ungutes Gefühl dabei. »Ich habe den Herren Tabard und Grimod bereits eine Zusammenfassung der Geschichte gegeben«, sagte er, »aber ich lese sie dir gern Wort für Wort vor, wenn du möchtest.«
»Bitte tun Sie das«, erwiderte Gaspard, der gleich zu einem bereitliegenden Stift und Papier griff.
Bran las unheimlich monoton, so als würde er einen Zauberspruch vortragen, und folgte dem Text dabei mit dem Finger.
»›Die Geschichte des Thymiaterions, überliefert von einem Flammenfinger …‹«
»Was ist das?«, unterbrach ihn Gaspard.
Bran blickte ihn verwirrt an. »Ein Thymiaterion? Das weiß ich nicht.«
»Nein, nein, ein Thymiaterion ist ein antikes Räuchergefäß. Meine Frage lautet vielmehr, wofür steht ›Flammenfinger‹?«
»So wird der Zweig der guérisseurs genannt, der sich mit Revenants befasst.«
Das erklärt all die Zeichnungen von Händen im Archiv! , dachte ich.
Bran fuhr fort. »›… einem Flammenfinger, der mit einer Gruppe weiterer guérisseurs vor der Pest aus Byzanz geflohen war und nun heimatlos umherzog.‹« Er schaute wieder von der Schrift auf. »Aus der Reihenfolge, in der die Geschichten niedergeschrieben wurden, schließe ich, dass hier mit Pest auf den Schwarzen Tod verwiesen wird. Folglich handelt es sich um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts.«
»Jaja«, sagte Jean-Baptiste ungeduldig. »Fahren Sie doch bitte fort.«
»›Kurz bevor die Pest um sich griff, siedelte eine Gruppe Bardia von Italien nach Konstantinopel um. In ihrem Besitz befand sich eine wertvolle Sammlung etruskischer Schätze. Wenig später tötete ein mächtiger Numa namens Alexios die Anführerin der Bardia, Ioanna, und band ihre Seele an sich. Ioannas Anverwandten gelang es, Alexios zu vernichten und so ihre Seele aus ihrer Gefangenschaft zu lösen.
Ioannas Anverwandte machten den Flammenfinger Georgios ausfindig, um ihn aufzufordern, der wandernden Seele wieder einen Körper zu geben. Sie berichteten ihm, dass eine entsprechende Zeremonie bereits mehrfach erfolgreich durchgeführt worden war, und zwar viele Jahre zuvor. Georgios lehnte ab, da er des nötigen Wissens entbehrte. Daraufhin belehrten die Anverwandten ihn, dass sich in ihrem Besitz ein gewaltiges Thymiaterion befand, welches in dem Ritual Verwendung finden musste, und dass das Objekt selbst die nötigen Informationen zur Verkörperlichung lieferte. Denn in das antike Räuchergefäß waren Symbole eingeritzt worden. Georgios führte die Zeremonie ihnen gemäß durch und konnte die wandernde Seele Ionnas so mit dem Körper verbinden, der zuvor von Menschenhand geformt worden war und durch das Ritual wieder ganz zu ihrem wurde.‹«
Mein Herz überschlug sich. Es gab also doch Hoffnung für Vincent! Mir war schwindelig und ich musste mich schwer zügeln, um nicht aufzuspringen und alle Anwesenden zu umarmen. Ich versuchte, mich damit zu beruhigen, einfach noch genauer zuzuhören. Ich wollte kein einziges Wort verpassen.
»›Wir fragten die Heimatlosen, wo das magische Objekt verblieben war. Sie berichteten uns, dass das Thymiaterion und alle weiteren Schätze der Bardia während der Belagerung ihrer Stadt erfolgreich hinausgeschmuggelt werden konnten, jedoch seither geplündert und in alle Herren Länder verstreut worden waren.‹
›So lautet die Geschichte, die uns der Flammenfinger Nikephorus persönlich berichtete, einst Bewohner von Konstantinopel, doch nun heimatloser Wanderer. Wir wunderten uns über die fantastisch anmutende Erzählung und manche zweifelten an ihrer Echtheit. Doch mein Großvater, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Gabe an meine Mutter vererbt hatte, spürte, dass sie wahr war. Er spürte, dass diese Gabe auch eine der unseren war.‹«
Bran steckte einen Zettel an die entsprechende Stelle des Buches, um den Eintrag schnell wiederfinden zu können. »Meine Erinnerung hat mich also nicht getäuscht, ich habe wirklich schon einmal von Verkörperlichung gehört.«
Und? , dachte ich. Verstohlen sah ich mich in der Bibliothek um und die anderen schienen sich die gleiche Frage zu stellen. Wir alle warteten auf mehr.
Jean-Baptiste beugte sich vor und massierte seine Schläfen. Dann räusperte er sich und sagte: »Und dieser Text über die Erfahrung eines heimatlosen
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