Von den Sternen gekuesst
dies zuließen. Doch schon nach ein paar wenigen Schritten drehten sich meine Gedanken nicht mehr um ihre Welt – eine Welt voller Hausaufgaben, Schulbälle und Bewerbungen –, sondern nur noch um meine. Eine Welt, in der ich um mein Leben bangen musste, weil eine steinalte, gefährliche Mörderin danach trachtete. Und zum hundertsten Mal hatte ich das merkwürdige Gefühl, zwischen die Seiten eines Romans geraten zu sein. In eine spannende und gruselige Geschichte, deren Ausgang ich mir im Leben nicht ausmalen konnte.
»Wir sind da«, sagte ich und wir kamen vor einem schönen Sandsteinhaus zum Stehen, drei Blocks von dem Café entfernt, wo wir meine Freunde zurückgelassen hatten. Wie versteinert stand ich vor dem Gartentörchen und starrte mein früheres Zuhause an. Das Haus, in dem ich aufgewachsen war.
Meine Großeltern hatten es so kurz nach dem Tod meiner Eltern nicht übers Herz gebracht, Georgias und mein Elternhaus zu verkaufen. Deshalb wollten sie es so lange vermieten, bis uns klar war, was wir damit machen wollten. Doch die letzten Mieter waren im letzten Monat ausgezogen und nun stand es leer, die Fenster lagen im Dunkeln.
Es war meine Idee gewesen, hier vorbeizuschauen. Aber jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich mit eigenen Augen sehen wollte, dass von meiner Familie, so wie ich sie in Erinnerung hatte, nichts mehr übrig war.
»Du musst nicht reingehen, wenn du nicht willst«, sagte Vincent leise, der mein Zögern spürte.
Ermutigt von seinem ruhigen, bestimmten Ton öffnete ich das eiserne Tor und zog Vincent mit mir in den Garten. Doch statt die Treppe hinauf zur Haustür zu gehen, steuerte ich eine Gartenbank aus Teakholz an, die an einer Hauswand stand. Ich setzte mich, winkelte die Beine an und umklammerte sie fest.
Dann lehnte ich mich an und ließ mich in den Garten meiner Kindheit zurückversetzen. Das Holz und die nassen Steine rochen genau wie früher. Das Rauschen des Verkehrs auf den viel befahrenen Hauptstraßen, auf die meine ehemalige Straße zu beiden Seiten führte, war das gleiche. Ich war wieder zehn und saß auf just dieser Bank, völlig gefesselt von Anne auf Green Gables : meiner persönlichen Zeitmaschine.
» Mon ange , rutschtst du ein Stückchen?«, hörte ich, und als ich die Augen öffnete, stand Vincent vor mir. Statt zur Seite rückte ich an die vordere Kante, sodass Vincent genug Platz hatte, sich hinter mich zu quetschen. Er legte beide Arme um mich und ich ließ mich gegen ihn sinken. So eng von Vincent umschlungen fühlte ich mich stark genug, meine ältesten Erinnerungen aufleben zu lassen und mich ein letztes Mal von meinen Eltern zu verabschieden.
A uf dem Rückweg zum Hotel machten Vincent und ich noch halt in einer Buchhandlung und deckten uns mit englischsprachiger Literatur ein. Besser hätten sich meine Nerven von der Achterbahnfahrt der Gefühle durch die Zeitreise in die Vergangenheit gar nicht erholen können, bevor wir uns wieder zu einem eher förmlichen Abendessen mit den anderen einfinden mussten.
Doch als wir das Restaurant betraten, erwartete uns nur Theo an dem reservierten Tisch. Ich setzte mich ihm gegenüber und fragte: »Wo sind denn die anderen?« Vincent nahm den Platz zwischen uns.
»Dein Großvater und Monsieur Tândorn lassen sich entschuldigen, sie waren zu müde. Und Jules wollte in Brooklyn bleiben«, erklärte Theo. »Er kommt morgen direkt zum Flughafen.«
Kaum hatte der Kellner das dampfende Essen serviert und uns den Rücken gekehrt, kam Theo zur Sache.
»Um ganz ehrlich zu sein, ich habe die anderen darum gebeten, heute Abend nicht zu erscheinen. Ich muss mich unter vier Augen mit dir unterhalten, Vincent, aber ich dachte mir, dass du Kate gern dabeihaben würdest.«
Während in meinem Kopf die Alarmglocken schrillten, wirkte Vincent neugierig, aber nicht beunruhigt. Was konnte Theo auf dem Herzen haben, von dem die anderen nichts erfahren durften? Der Geheimnistuerei und Theos aufgewühlter Miene nach zu urteilen, handelte es sich um mehr als nur Glückwünsche zur erfolgreichen Verkörperlichung.
Theo nahm seine Serviette in die Hand und knetete sie ein paarmal nervös, bevor er sie auf seinen Schoß legte. Er mied den direkten Blickkontakt mit uns beiden und ich sah, dass sich Schweißtropfen in seinen Augenbrauen verfingen. Dann endlich machte er den Mund auf. »Ich habe Jean-Baptiste zwar versprechen müssen, über diese Sache kein Wort zu verlieren, aber ich kann euch einfach nicht in den Krieg
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