Von der Liebe verschlungen
Schatten gewesen. Er hatte mich gesehen, und direkt durch mich hindurchgeblickt. Und er hatte mich gehen lassen, obwohl wir beide wussten, dass er mich hätte festhalten können. Ob nun mit seinem Körper oder seinen Worten, ich wäre hilflos gewesen, hätte er wirklich gewollt, dass ich blieb. Ich hatte ihn genommen, bestochen, verwandelt und für meine eigenen Zwecke benutzt. Und das alles mit einem Ziel: Frostland zu retten und Königin zu sein, mit Macht über alles und jeden.
Ich konnte mir nicht selbst eingestehen, dass nun ein Mann Macht über mich hatte.
Der morgige Tag würde schon schlimm genug werden, auch ohne dass ich mir eingestand, wie viel ich zu verlieren hatte.
33.
A ls ich aufwachte, hörte ich Verusha summen. Es war immer dasselbe Lied, seit ich zum ersten Mal das Bett meiner Mutter verlassen hatte, um in Kälte und Einsamkeit im Kinderzimmer zu schlafen. Ich lächelte und brummelte: »Du singst falsch, alte Frau.«
»Und du bist eine undankbare kleine Kreatur, die es verdient, im Fluss ertränkt zu werden«, gab sie zurück. »Bis nach Mittag schlafen. Faules Biest!«
Die warme Vertrautheit des Rituals war beruhigend, aber nur bis mir klar wurde, dass heute der Tag war, an dem sich alles entscheiden würde. Leben oder Tod, Königin oder Bauer. Casper oder … die Leere an meiner Seite, wo er sein sollte.
Ich setzte mich auf, während Verusha die Kissen hinter meinem Rücken aufschüttelte und mir eine Teetasse mit warmem Blut und Bludstutenmilch in die Hand drückte. Ich trank langsam und eine Flut von Erinnerungen drängte sich in meinen Kopf. Wie ich zum ersten Mal Schläge bekommen hatte, weil ich Schwäche gezeigt hatte. Wie Olgha mich immer in eine Kiste gesperrt oder mein Gesicht mit Schnee eingerieben und dabei gesagt hatte, ich würde nie mehr als eine hübsche Zuchtstute sein. Und einmal hatte ich mich in die Küchenräume der Pinkies geschlichen und mit den Kindern dort gespielt. Ich hatte ihre Nahrungsmittel probiert und zu unser aller Belustigung wieder ausgespuckt. Und ich dachte an danach, als ich bestraft worden war. Meine Mutter hatte mich gezwungen, von einem der Kinder zu trinken, einem kleinen Jungen. Sie hatte ihn so fest gehalten, dass er sich nicht rühren konnte, sein schwarzes Haar in einer Hand und seine Schulter in der anderen.
»Vergiss nie, was sie für uns sind«, hatte sie gesagt, als ich hin- und hergerissen innegehalten und mit ungeschickten Zähnen über seinen Hals gekratzt hatte. »Sie sind Nahrung. Diener. Vieh. Dafür da, um nach unserem Gutdünken aufgezogen, benutzt und weggeworfen zu werden. Wenn sie einmal über dich gelacht haben, werden sie immer auf eine nächste Chance warten.«
Tränen waren mir über die Wangen gelaufen, hatten sich mit dem Blut des Jungen vermischt und meine Lippen verschmiert. Ich war nie wieder in die Küchenräume gegangen, und dieser Junge war mir danach aus dem Weg gegangen, solange ich im Palast lebte.
Ich hatte jahrelang nicht an ihn gedacht, doch jetzt fragte ich mich, wo er wohl war, und wie meine Zukunft sich wohl entwickeln würde. Würde ich alles ändern oder nichts? Würde ich die Pinkies aus dem Viertel, das sie an sich gerissen hatten, in die Innenstadt zurücktreiben oder ihnen gestatten, zu gedeihen? Wollte ich wirklich damit fortfahren, Menschen so zu behandeln, wie Keen und Casper behandelt worden waren: als Wesen, die weniger galten als Bludstuten und Jagdhunde? Und wenn ich beschloss, das nicht zu tun, wie würde mein Volk reagieren? Ravenna ließ die Menschen verwildern; die Beweise dafür hatte ich gesehen, in gedruckter Form und im wirklichen Leben. Anfangs hatte ich sie dafür gehasst. Doch nun, da ich begann, anders darüber zu denken, musste ich mich unwillkürlich fragen, wie es wohl aussehen würde, wenn ich sie vom Thron stieß und selbst weiterhin Mitgefühl für die Pinkies zeigte.
»Ich sehe, du bist unruhig, mein Lieblienk«, sagte Verusha. »Vielleicht beruhigt dich das hier.« Sie öffnete den Schrank und holte ein prachtvolles Kleid heraus. Es war mir mehr als vertraut, auch wenn seine Farbe vom ursprünglichen Creme zu einem kühlen Aquamarin geändert war. Ich stellte mir vor, wie Verusha es aus dem Sommerpalast gestohlen und insgeheim umgefärbt hatte; wie sie es von Zeit zu Zeit wehmütig betrachtet hatte, als hätte sie gewusst, dass ich eines Tages zurückkehren würde, um es mir zu holen.
»Denkst du, es wird noch passen? Ich bin größer.«
»Aber dünner. Wir sorgen schon
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