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Von der Liebe verschlungen

Von der Liebe verschlungen

Titel: Von der Liebe verschlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delilah S. Dawson
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in Frostland«, enthielt.
    »Sieg in Frostland? Das klingt doch nach einer guten Lektüre, Onkel«, meinte ich.
    Er lachte düster auf und reichte mir ein rotes Taschentuch, das ich verwirrt anstarrte.
    »Ich denke, du wirst enttäuscht sein, Nichte. Vergiss nicht, wer in London die Zeitungen macht.«
    Ich hatte erwartet, dass er mich daraufhin allein lassen würde, aber er wich nicht von meiner Seite. Und nachdem ich den Bericht durchgelesen und endlich das Ausmaß der Schwierigkeiten in meinem Land verstanden hatte, legte ich meinen Kopf an seine Schulter und weinte.

9.
    A ls ich meinen Kopf wieder von Caspers Schulter nahm, war das Taschentuch zwischen uns mit Bludtränen verklebt. Zu meiner großen Überraschung hatte er den Arm um mich gelegt, und zu meiner noch größeren Überraschung machte es mir nichts aus. Der Untergang meiner Familie mag den Pinkies in London ja wie ein Sieg erschienen sein, doch für mein Volk und mein Land bedeutete er eine Tragödie.
    Casper hatte die Wahrheit gesagt. Frostland war dem Untergang geweiht. Meine Eltern waren kürzlich exekutiert worden, meine Schwester und ich galten seit Jahren als vermisst, und mein jüngerer Bruder, Alex, war Ravenna hörig.
    Laut Berichten aus Moskovia hatte die machthungrige Zigeunerhexe mehrere Landbarone abgesetzt oder ermordet und deren Nachfolger im Bludrat, unserem symbolischen Parlament, sorgfältig ausgewählt. Sie war zur Premierministerin erklärt worden und riss nun an der Seite von Alex einige Aufgaben einer Zarina an sich. Und sie ließ eine Statue zu Ehren der verlorenen Prinzessin Olgha errichten, deren Schiff angeblich von ihrer jüngeren Schwester, der halbsvedischen Bastardin Ahnastasia, versenkt worden war. Ich galt ebenfalls als tot, aber der Preis auf meinen Kopf hatte sich trotzdem erhöht.
    Womit ich leben konnte. Ich hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem rehäugigen, langhaarigen Eisengel auf den Abbildungen. Die größte Pein bereiteten mir die Gerüchte, dass mein Bruder Alex in Ravenna verliebt sei und sie demnächst ehelichen wolle. Die Zeitungen behaupteten, dass sie ihm geheime Mittelchen und magische Tränke verabreiche, um sein chronisch animalisches Wesen zu bekämpfen; ein Versuch, sein überschäumendes Temperament im Zaum zu halten, das ihn zu wenig mehr als einem Tier machte – und zum einzigen der Feodor-Geschwister, dem sämtliche Fähigkeiten fehlten, um den Thron zu übernehmen. Kein Wunder, dass er der Einzige war, den sie am Leben gelassen hatte: Er war derjenige, der sich mit Abstand am leichtesten beherrschen ließ.
    Ich kämpfte gegen den Drang an, das Papier mit meinen Zähnen in Fetzen zu reißen und dann alle anderen im Panzerbus zu töten. Noch nie hatte ich mich derart hilflos gefühlt, so weit weg von zu Hause. Ich schaute aus dem Fenster, sah das endlose Grün der Moore vorbeiziehen und drängte innerlich das Fahrzeug, schneller zu fahren. Aber das Getriebe knirschte weiter, der Motor knatterte weiter, und wir zockelten weiter dahin. Ich musste auf etwas einschlagen, also versetzte ich dem Sitz vor mir einen Tritt und knurrte.
    Casper lachte leise, und seine Augen blickten grimmig und gleichzeitig verständnisvoll. »Am liebsten würdest du die ganze Welt niederbrennen, nicht wahr? Weil das, was du willst, in weiter Ferne liegt. Weil dein altes Leben für immer dahin ist.«
    »Meine ganze Welt.« Ich strich mit einem Finger über das dicke, trübe Glas. »Meine Familie. Mein Land. Dahin in einem Herzschlag. Dahin, während ich schlief.« Ich wischte mir noch eine Träne aus dem Gesicht. »Ich bin ganz allein.«
    Das Schweigen hing schwer zwischen uns. Ich spürte, dass er wollte, dass ich ihn ansah; dass es etwas gab, was er mir sagen wollte. Doch ich widerstand. Das, was ich fühlte – es war einfach zu viel. Er konnte das unmöglich verstehen.
    Mit einem letzten, bekümmerten Seufzen und einer Hand an meiner Schulter sagte er: »Du bist nicht die Einzige, die je eine Welt verloren hat, weißt du. Und du bist nur so allein, wie du sein möchtest.«
    Damit glitt er wieder auf die Sitzbank vor mir. Keen grummelte im Halbschlaf ärgerlich vor sich hin, als er sich neben ihr niederließ. Eigentlich sollte ich ebenso erschöpft sein, doch ich war gefangen zwischen Kummer, Hilflosigkeit und Hunger, eingeschlossen in einem langsam dahinzockelnden Bus mit meiner teilnahms- und ahnungslosen Beute. Hätte man hier gewusst, was ich war und was ich ihnen am liebsten antun wollte – sie hätten mich alle

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