Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Idee zu der Recherche verdankte.
Offenbar bin ich nicht der Einzige, der ein Problem mit seinem 50. Geburtstag hat. Warum treffen wir uns nicht mal auf ein Bier und reden uns den Kummer von der Seele?
Während die Sonne bereits aufging, verschob ich die ganzen Spinner und Freaks in den Papierkorb, bis ein Dutzend seriöse Reaktionen übrig blieben. Denen antwortete ich noch rasch, bevor ich ins Institut fuhr, wo meine Studenten sich von DJ Kotze ausruhten, während ich über die »Quote« referierte: Dass nicht die absoluten Zahlen entscheidend sind, also wie viele Leute ein TV-Programm schauen, sondern welche Leute. Jene wichtige Gruppe zwischen 14 und 49, die von der Werbung umworben wird. Ich war 49, aber nicht mehr
lange. Wenn ich 50 wäre, würde ich in diesem Ranking nicht mehr vorkommen. Ich könnte so oft vor der Glotze hocken, wie ich wollte, was ich auch tat, seitdem Martina ausgezogen war, ich würde nicht mehr zählen.
Als ich am Abend meine Mails checkte, hatten alle Angeschriebenen reagiert. Eine Absage kam aus der JVA Stadelheim: Bernd bedauerte, nicht kommen zu können, weil er wegen bewaffneten Raubüberfalls seinen 50. Geburtstag im Knast feiern würde. Er fände es aber super, wenn wir ihn in unseren E-Mail-Verteiler aufnehmen würden. Rita beschwerte sich, warum ich nicht sofort geschrieben hätte, dass ich scharf sei auf ein Date. Stefan hatte inzwischen, inspiriert von der Diskussion, die ich angestoßen hatte, Nägel mit Köpfen gemacht und eine Trekkingtour nach Tansania gebucht. Er würde seinen 50. Geburtstag auf dem Gipfel des Kilimandscharo feiern. Eine weitere Absage kam aus den Vereinigten Emiraten von einem Ingenieur, der dort Brunnen bohrte. Wegen der großen Entfernungen, schrieb Rainer, könne er keine regelmäßige Teilnahme an unseren Treffen garantieren. Aber er würde meine Anregung aufgreifen und in Dubai eine eigene Selbsthilfegruppe für Fortyniners gründen.
Blieben drei Frauen und zwei Männer übrig, denen ich schrieb, wie es mit Samstagmittag aussähe, und die ich um Vorschläge für einen Treffpunkt bat.
Um eine Sache klarzustellen: Ich war noch nie in einer Selbsthilfegruppe. Ich bin mit einer Therapeutin verheiratet. Wenn ich durch verschiedene Krisen gegangen bin, meist beruflicher Natur, war immer Martina da, um mich aufzufangen. Damit war jetzt Schluss.
»Warum gehst du nicht zu Dorata«, schlug Martina vor, als ich sie zufällig in unserer Wohnung antraf, wo sie ein paar Bücher und Kleider einpackte, und ich ihr sagte, es ginge mir nicht so gut.
»Dir geht es nicht gut?« wiederholte Martina mit dem Anflug eines Lächelns, während sie unser Hochzeitsfoto aus
dem Rahmen nahm, es in der Mitte durchriss und mir meine Hälfte in die Hand drückte. »Bist du deiner jungen Freundin sexuell nicht gewachsen?«
Auch meine Kinder gingen auf Distanz. Ich weiß nicht, was Martina ihnen erzählt hatte. Martina behauptete, sie habe nichts gesagt, nur dass ich eine Freundin hätte, die halb so alt sei wie ich und tätowiert. Diese wenigen Informationen reichten aus, dass Nina die Zwillinge auf ihr Zimmer schickte, als ich unangemeldet bei ihr auftauchte, um mich auszusprechen. Doch dazu kam ich gar nicht. Sobald die Tür hinter den Zwillingen zufiel, brach Nina in Tränen aus und erklärte, sie habe das Gefühl, ihre Kindheit, nein, ihr ganzes Leben, einfach alles sei ein Fake.
»Aber warum?« erkundigte ich mich betroffen.
»Warum? Du willst echt wissen, warum?!« Der Niagarafall aus Tränen wurde noch heftiger. »Weil ich dachte, dass mein Vater so etwas nicht tut.«
»Du bist 24 und hast selbst Kinder.«
»Trotzdem!« erwiderte Nina und stieß mich von sich, als ich sie tröstend in den Arm nehmen wollte.
Seltsame Logik. Während Nina nicht schnell genug das Elternhaus verlassen konnte, um ihr eigenes Leben zu leben, sollte ich mein Leben lang in meiner Vater-Rolle eingesperrt bleiben, obwohl niemand mich mehr brauchte? Wie ein Bahnwärter, der immer noch die Schranke herunterdreht, obwohl längst kein Zug mehr kommt.
»Sie ist tätowiert?« fragte Nina, während sie mit spitzen Fingern das Taschentuch nahm, das ich ihr reichte – wie früher, wenn sie sich beim Rollschuhfahren die Knie aufgeschlagen hatte.
»Ja«, erwiderte ich, froh darüber, dass sich Nina für Dorata interessierte. »Sie hat einen Schmetterling zwischen dem Bauchnabel und …«
»Ich will’s nicht hören!« schrie Nina und hielt sich die Ohren zu.
»Aber du hast mich doch
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