Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
anders vorgestellt. Ich hatte auf unzähligen Demos eine freie Presse und den freien Zugang zu den Medien gefordert. Aber damit meinte ich doch nicht, dass plötzlich jeder, wirklich jeder, mitreden durfte wie dieser »Ayatollah«. Was für ein kranker Name! Aber sein Beitrag löste eine heftige Kontroverse aus.
Mit dir sollten wir anfangen, du Spinner! schlug »Raskolnikov« vor.
»Polyphem« fand die Idee des »Ayatollah« zwar radikal, aber bedenkenswert: Wenn die Chinesen wegen der Überbevölkerung die Ein-Kind-Familie einführen können, warum sollen wir nicht wegen der Überalterung unserer Gesellschaft den Abgang mit 60 beschließen?
Puh, da habe ich ja noch eine Galgenfrist von 10 Jahren! dachte ich, während ich mich durch die Lawine kämpfte, die ich mit meinem Hilferuf losgetreten hatte.
Dein Problem mit dem Älterwerden, klärte mich »Shapati« auf, ist unserer westlichen, materialistischen Gesellschaft geschuldet. Seitdem ich der Lehre Buddhas folge, erschreckt mich der Gedanke an den Tod nicht mehr. Denn der Tod ist nicht das Ende, sondern der Anfang eines Kreislaufs, der immer wieder von vorn beginnt .
Warum suchen wir unser Heil in fernöstlichen Philosophien, wo das Gute doch so nahe liegt? meldete sich »His Master’s
Voice« zu Wort. Jesus ist der Weg und das Ziel. Wer an ihn glaubt, wird leben, auch wenn er schon gestorben ist. In unserem Bibelkreis für alle über 50 lernen wir zu begreifen, dass der Tod die Erlösung von unseren irdischen Fesseln bedeutet.
Ich begann schon, die Adresse dieses Bibelkreises für Best Ager aufzuschreiben, um mich in einer Runde Gleichgesinnter auszusprechen und ein bisschen besser zu fühlen, als mir plötzlich meine Sonntage in Sankt Sebastian einfielen: Meine Eltern waren katholisch, weshalb sie mich immer zum Hochamt mitschleppten, wo es nach Nur-Samstags-Baden und ungelebter Sexualität roch. An dem Tag, als ich 18 wurde und selbst über mein Leben bestimmen durfte, trat ich aus der Kirche aus. Ich brauchte keinen alten Mann in Rom, der lustige Mützen und violette Schuhe trug und mir erklärte, wann ich mit meiner Freundin schlafen durfte. Nämlich erst, wenn wir verheiratet wären. Ich brauchte auch keinen lieben Gott, der tatenlos zuschaute, wenn die Hutus die Tutsis abschlachteten. Auch ohne die regelmäßige Inkorporation des Leibes Christi würde ich meine Nachbarn nicht ausrauben oder meine Kinder missbrauchen. Und die Vorstellung, dass am Ende meines Lebens, das gerade mit Riesenschritten näher rückte, sich eine kosmische Wellness-Oase öffnen würde, lockte mich nicht wirklich. Ich glaube nicht, dass es einen Gott gibt, der so unterschiedliche Lebewesen erschaffen hat wie den Quastenflosser und DJ Kotze. Und sollte ich mich in dem Punkt irren, stelle ich mir das Paradies ziemlich langweilig vor – wie ein Konzert von Genesis , das immer wieder von vorn beginnt.
Natürlich warf die Kirche ihre Angel nach Leuten wie mir aus, die in der Sinnkrise steckten: www.wiedereintritt.de prangte es auf einem Banner über dem Portal von Sankt Anna. Der allerletzte Bus, mit dem ich noch das ewige Leben erreichen könnte, sollte doch etwas dran sein an der Auferstehung.
Okay, ich war bereit, für ein ordentliches Honorar meine
Geschichten zu ruinieren und meine Figuren zu verraten, aber wieder zurück in den Schoß von Mutter Kirche zu kriechen, nur weil die Zeit hier auf Erden für mich langsam ablief – so tief würde ich nie sinken. Es gibt noch einen Rest Anstand, den ich mir bewahrt habe. Ich würde nicht wieder in die Kirche eintreten, damit ein Priester, der mich nie im Leben zu Gesicht bekommen hat, auf meiner Beerdigung ein paar wohlwollende Sätze über mich sagen würde, die meine Familie ihm auf einem Zettel zugesteckt hätte. Wobei, so wie es im Moment aussah, meine Familie gar nicht zu meiner Beerdigung kommen würde. Ich würde genauso alleine sterben, wie ich alleine meinen 50. Geburtstag feiern würde.
Trotzdem brachte mich »His Master’s Voice« auf eine Idee, denn so schlecht war der Vorschlag gar nicht, sich zu treffen, um sich mit anderen Betroffenen den Kummer von der Seele zu reden. Offenbar gab es nicht nur bei mir Gesprächsbedarf. Warum trafen wir uns nicht, die 49er, zu einer Selbsthilfegruppe? Nicht der »Ayatollah« und die ganzen anderen, deren E-Mails ich hier unmöglich zitieren kann, weil sie den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Sondern vernünftige Leute wie »Michael«, dem ich die
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