Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
gerade gefragt.«
Nina warf sich aufs Sofa und weinte so heftig, dass Holger besorgt die Treppe herunterkam. Sie haben eine Maisonette-Wohnung, wo von den Schlafräumen eine geschwungene Treppe hinunter ins Wohnzimmer führt. So eine Treppe wie in Verdacht von Hitchcock, die Cary Grant mit einem Glas Milch hinaufsteigt, um Joan Fontaine zu vergiften. Nur dass ich hier der Bösewicht war.
»Sie hat einen Schmetterling zwischen ihrem Bachnabel und …« Der Rest des Satzes wurde von Holgers breiter Brust verschluckt, der Ninas Kopf streichelte, während er mir mit einem Blick zu verstehen gab, es wäre besser, wenn ich gehen würde.
»Kann ich mich noch von Anna-Lena und Sophie-Charlotte verabschieden?« fragte ich.
Statt zu antworten, drückte Holger mir das lustige Fangden-Hut-Spiel , das ich für meine Enkel mitgebracht hatte, schweigend in die Hand und begleitete mich zur Tür.
Hier war also kein Verständnis zu erwarten. Aber vielleicht bei meinem aufgeklärten Sohn, dessen Semesterarbeit ich gerade Korrektur gelesen hatte und in der es um Repressive Ideologie in der bürgerlichen Versorgungs-Ehe ging. In seiner Arbeit wies David nach, wie durch die Umformung der Sexualität in einen Vertragsgegenstand diese zu einem Herrschaftsinstrument würde. Da müsste es David doch eigentlich gefallen, wenn ich – auch erst reichlich spät mit fast 50 – aus diesem repressiven System ausbrach.
»Sie ist tätowiert?« empfing mich David an der Tür zu seiner WG.
»Darf ich erst mal reinkommen?«
»Klar, aber ich habe nicht viel Zeit.«
David führte mich in die Küche, wo ein Mitbewohner in einer grauen Unterhose auf der Waschmaschine hockte und sich mit einem Schweizer Militärmesser die Fußnägel schnitt.
»Ich bin der Vater von David«, stellte ich mich vor.
»Ach, du bist der Typ, der was mit seiner Praktikantin
angefangen hat?« grinste der Kerl in der grauen Unterhose mich an, während ein Stück Fußnagel in meiner Teetasse landete. Er war übrigens von oben bis unten tätowiert.
»Warum gehst du schon wieder?« fragte David verwundert, als ich aufstand.
»Ihr tut alle so, als sei ich ein Monster«, verteidigte ich mich.
»Du bist mein Vater«, erwiderte David ernst, während ich begriff, dass ich sie niemals loswerden würde – diese Fußfessel namens Verantwortung , die ich seit einem Vierteljahrhundert hinter mir herzog, weil wir Martinas Eisprung falsch berechnet hatten. Irgendwie kam ich mir vor wie die Schwester von Jorgos, deren Mann vor ein paar Jahren gestorben war. Das ganze Dorf erwartete von ihr, dass sie nie wieder heiraten würde, obwohl sie noch gar nicht so alt war, jedenfalls jünger als ich.
Ich war der Gefangene meines Alters, und der Tag meiner Freilassung würde mein Todestag sein. Keine schöne Perspektive. So spürte ich, dass ich zum ersten Mal fremde Hilfe brauchte, wobei ich ehrlicherweise gestehen muss, dass ich doch mal eine Zeit lang zu einer Selbsthilfegruppe ging, was mir allerdings damals nicht klar war.
Der Bayern-Hass-Club traf sich immer bei mir zuhause, weil ich als Einziger aus beruflichen Gründen Pay-TV hatte. Wir schauten alle Spiele der Bayern in der Hoffnung, dass sie verlieren würden. Lauter gesetzte Linke wie ich, die völlig durchdrehten, als beim Champions-League-Finale 1999 erst Teddy Shearingham und dann Ole Gunnar Solksjaer die Bayern aus allen Träumen rissen. Dabei hatten wir uns schon in die Niederlage ergeben, die ein Sieg der Bayern, die bis zur 90. Minute mit 1: 0 führten, für uns bedeutet hätte. Wir kamen uns ziemlich lächerlich vor in unseren T-Shirts mit dem Logo des Bayern-Hass-Clubs, die ich zum Finale gegen ManU im Copyshop in Auftrag gegeben hatte. Ich war gerade dabei, mir dieses blöde T-Shirt auszuziehen, als in der
Nachspielzeit die beiden Gegentore fielen. Im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten im Stadion riss ich mir zum Torjubel mein Trikot nicht vom Leib, sondern zog es wieder an. Sechs erwachsene Männer lagen sich weinend vor Glück in den Armen. Ein Berg schreiender, zuckender Leiber, während Martina besorgt ins Wohnzimmer stürzte und fragte, ob wir gerade alle unser Coming-out hätten.
Nachdem sich durch den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus alle Träume von einer besseren Welt zerschlagen und der Kapitalismus den Endsieg davongetragen hatte, reduzierte sich unser Gefühl, dass es doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt gab, auf den Moment, als Vestenbergsgreuth die Bayern aus der ersten
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