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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
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Trolley in den Raum stürmte und sich außer Atem auf den freien Stuhl plumpsen ließ, erklärte, das sei »Folklore«. Er käme gerade aus »motherfucking Shanghai« – er holte 5 Euro aus seinem Portemonnaie und warf sie in Ermangelung eines Sparschweins in den inzwischen leeren Kaffeebecher, den er mitgebracht hatte – und hätte gesehen, wie dort mit den Alten umgesprungen würde.
    »Die werden in Käfigen gehalten, wie Hühner. Ich bin übrigens der Andreas!« stellte der Dicke sich vor, während er eine Zigarette aus seinem Jackett zauberte, aber nach einem Blick in unsere abweisenden Gesichter darauf verzichtete, sie anzuzünden. «Das sind die Gesetze des Marktes. Angebot und Nachfrage. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Frauen in Europa durchschnittlich 52 Jahre alt
und die Männer nur 46. Da wären die meisten von uns also schon tot.«
    Andreas schaute in die Runde, und alle senkten ihren Blick, als schämten wir uns für unser biblisches Alter.
    »Da waren Alte selten und entsprechend wertvoll«, schaltete sich Michael, der Ex-Lehrer wieder ein, »weil sie diejenigen waren, die Handlungswissen besaßen, das nicht in Büchern stand, sondern mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde.«
    »Vergiss nicht die Mythen, die die Alten erzählen können«, warf Susanne, die Frau mit dem Dekolleté, ein. »Duzen wir uns eigentlich?«
    Alle schauten mich an, als ob ich hier der Leiter wäre.
    »Warum nicht«, schlug ich vor, »wo wir doch alle gleich alt sind.«
    »Welche Mythen meinst du?« griff Andreas den Gedanken von Susanne auf. »Den Mythos, dass Alter Erfahrung bedeutet?«
    »Ja, ist das denn nicht so?« Mit einem fragenden Blick suchte Susanne bei uns anderen nach Zustimmung.
    Ich wollte gerade Susanne zu Hilfe kommen, allerdings nicht, weil ich ihre Einschätzung teilte. Wenn ich mit David diskutierte, spürte ich, dass meine ganze Erfahrung so viel wert war wie eine alte Windows-Version, die nicht mehr auf meinem neuen Laptop lief. Aber ich wollte das Gift aus der Diskussion nehmen. Schließlich waren wir nicht hier, um uns herunterzuziehen, sondern um uns gegenseitig Mut zu machen. Aber während ich gerade den Mund öffnen wollte, grätschte Andreas schon dazwischen.
    »Ist euch eigentlich klar, dass sich das globale Wissen alle 20, was sage ich da, alle 10 Jahre erneuert? Der ganze Unsinn, den wir hier oben gespeichert haben«, Andreas tippte sich mit seinem fetten Zeigefinger an die Stirn, »ist Datenschrott, der Speicherplatz wegnimmt.«
    »Meine Mutter weiß noch, wie man Marmelade einkocht«, versuchte Susanne tapfer dagegenzuhalten.

    »Na super!« höhnte Andreas. »Weiß deine Mutter auch, wie man einen Computer einschaltet?«
    »Nein. Aber das braucht sie in ihrem Alter auch nicht.«
    »Da wäre ich mir nicht so sicher.« Andreas holte wieder die Zigarette hervor, steckte sie sich in den Mund und hatte spätestens jetzt die Aufmerksamkeit der Gruppe, weil jeder darauf wartete, ob er diesmal die Dreistigkeit besitzen würde, sie anzuzünden. »Ich bin oft in Japan …«
    Dieser Andreas ist ja ein richtiger Global Player, dachte ich nicht ohne Neid.
    »Dort übernehmen immer mehr Roboter die Altenpflege. Und wenn der Roboter es zu gut mit dir meint und dir solange den Arsch abwischt, bis du wund wirst, helfen dir keine Mythen weiter, dann sind grundlegende Computerkenntnisse von Vorteil.« Andreas warf weitere 5 Euro in den Kaffeebecher und brach in schallendes Gelächter aus, während wir anderen uns betreten anschauten.
    Es dauerte einige Zeit, bis der massige Körper von Andreas, der hin- und herschaukelte wie eine Frittenbude bei einem Erdbeben, wieder zur Ruhe kam und er fortfuhr: »Alter ist heute so viel wert wie die ersten PCs. Erinnert ihr euch noch? Als die Bildschirme schwarz waren und die Schrift aus grünen Pünktchen bestand. Oder VHS-Kassetten, die man immer zurückspulen musste, bevor man sie sich anschauen konnte. Lauter Zeug, das keiner mehr braucht, weil es inkompatibel ist mit der neuen Zeit.«
    Schweigen senkte sich über unsere Runde, das Susanne mit der Erklärung beendete, sie habe auf ihren Aerobic-Kurs verzichtet, um hier Zuspruch zu finden. Aber um sich herunterziehen zu lassen, hätte sie nicht hierher zu kommen brauchen, das könne sie selbst perfekt. Aus diesem Grund habe sie zuhause alle Spiegel zugehangen, weil sie den Anblick ihres alternden Körpers nicht mehr ertragen könne.
    »Ich finde, du siehst immer noch toll aus!« sagte Ingrid, die

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